Eine Wertvorstellung ist, in der Ethik, eine Reihe von Idealen oder Vorgaben für unser Verhalten, auf der Grundlage dessen, was wir als moralisch richtig oder falsch definieren. Eine der Errungenschaften der Aufklärung war es, eine rationalistische Auffassung der Wertvorstellung zu definieren, d.h. auf Grundlage der allgemein anerkannten Moralvorstellung eine Reihe von objektiven Werten abzugrenzen. Die Bedeutung dieser objektiven Werte war, dass sie immer gleichwertig Anwendung finden sollten, so zum Beispiel jeder Mensch als gleichwertig gesehen wurde, egal ob er nun als adeliger oder als einfacher Bürger geboren war; oder ein Verbrechen ebenso bestraft werden soll, egal wer dieses verübt hat, Reich, Arm, Frau, Mann, usw.. Die Idee dieser objektiven Wertvorstellung ist seither so tiefgreifend verinnerlicht worden, dass kaum jemand noch explizit darüber nachdenkt. Vielleicht ist es deshalb, dass es so einfach geworden ist, für die relativistischen Ideen, dieses Konzept in Frage zu stellen, gar sogar zu überwinden.

Was wir heute mehr und mehr haben ist das, was man eine ad-hoc Wertvorstellung nennen müsste. Die vermeintlichen Werte gelten immerzu unterschiedlich, je nach Situation, vor allem in Abhängigkeit der emotionalen Empfindung darüber. Die Diskriminierung von Menschen, welche jahrelang in Anbetracht geschichtlicher Vorgänge als grosse Ungerechtigkeit galt, kann dann sehr schnell wieder geläufig werden, solange es mit pseudowissenschaftlichen Begründungen beschmückt wird. Es ist ja nicht das gleiche. Angriffskriege, wie wir sie seit etlichen Jahren beobachtet haben, ohne gross mit der Wimper zu zucken, sind auf einmal unverzeihliche Sünden, die von der ganzen Welt aufs schärfste verurteilt werden müssen. Es ist ja nicht das gleiche. Sogar terroristische Methoden werden zumal gebilligt, wenn es dem richtigen Zweck dient. Es ist ja nicht das gleiche. Und das Recht auf die freie Meinungsäusserung wird neuerdings sehr relativ verstanden, und vieles, was einfach nur unbeliebte Meinungen oder Ansichten sind, sollten am besten gar nicht ausgesprochen werden; und wenn man dann von den Medien zensiert, von den sozialen Netzwerken blockiert oder vom Arbeitgeber entlassen wird, ist man selber schuld, denn es heisst ja nur, der Staat dürfe die Meinungsäusserung nicht einschränken, Private wohl doch. Es ist ja nicht das gleiche.

Wahrlich, nichts ist mehr das gleiche, und alles ist jetzt relativ. Die Folge davon ist ist, dass auch keine objektiven Werte mehr möglich sind, und damit auch keine gesellschaftliche Ordnung. Stattdessen geht die Masse auf all das los, was in jedem Moment emotional missfällt, ohne dass es wirklich klare Kriterien mehr gibt für das, was richtig ist, und das was falsch. Anstatt dass man klare Richtlinien hat, die zumindest einen Haltepunkt darüber geben, was moralisch akzeptabel ist und was nicht, lässt man sehr bequemlich den Gemütszustand entscheiden: Das gefällt mir, also ist es gut. Das gefällt mir nicht, also ist es schlecht. Wendete man die gleiche Logik bei der Ernährung an, so werden wir alsdann entscheiden, dass der fast-food Hamburger oder die fettige Bratwurst die gesündeste Ernährung darstellen, eine Hühnerbrust oder gekochtes Gemüse hingegen ungesunder Frass sind.

Der relativistische Diskurs stellt in Frage, warum es eine solche objektive Wertvorstellung geben muss, da ja Moral- sowie Wertvorstellung nur Konstrukte sind, Erfindungen des Menschen die nirgendwo vorgegeben sind, und auf die wir folglich verzichten können und sollten. Warum ist es besser, eine Reihe von Vorgaben zu befolgen, anstatt dem Gemüt zu gehorchen? Warum sollten wir nicht alle möglichen Handlungen oder Massnahmen gut heissen, wenn sie unserem Zweck dienen, während wir sie verurteilen, wenn sie diesem entgegenwirken? Ist es schlussendlich nicht das beste, wenn man einfach den eigenen Nutzen sucht, ohne durch das Korsett solcher willkürlichen Vorgaben gebunden zu sein? Es hat ja auch etwas demokratisches, der Mob ist grundsätzlich mehrheitlich, und wenn die Mehrheit entscheidet, sollte sich die Minderheit fügen.

Die Menschheit hat seit Urzeiten so funktioniert, dass der Stärkste, oder später die stärkste Gruppe, sagte, und alle anderen gehorchten. So liegt es oftmals in der Natur selber, wo Rudeltiere ein Alfamännchen haben, oder andere Tiere ein Territorium definieren, und jeden Eindringling bekämpfen. Überleben des Stärkeren, heisst es in der Darwinschen Evolutionstheorie. Erst mit Anbruch der Zivilisation entstanden in seltenen Fällen gesellschaftliche Ordnungen, welche in unterschiedlichem Mass objektive Moralvorstellungen entwickelten, am bedeutendsten hierbei die Aufklärung, deren Grundlagen uns seit ein Paar Jahrhunderten bis heute begleitet haben. Die relativistischen Thesen, die beginnend in den 60er Jahren aus der philosophischen Bewegung des Poststrukturalismus hervor gingen, sind in diesem Sinne nichts weiter, als eine Regression zu animalischen Trieben, verschleiert hinter einer vermeintlich komplexen Auffassung, die aber schlussendlich nichts anderes ist, als der emotionale Trieb. Und das ist es sicherlich, was diesen Ideen erlaubt, sich auszubreiten, vor allem wenn eine Atmosphäre von Krise und Bedrohung herrscht: Der einfache Ausweg, aus einem komplexen Verständnis unserer Realität, in die primale Emotion.

Mit Zivilisationen verhält es sich zumal wie mit Sandburgen: Es ist schwierig und dauert lange sie aufzubauen, man muss sie gut hüten damit sie nicht zerfallen, und es geht sehr schnell und einfach, sie kaputt zu machen. Die meisten Menschen, die sich nun mitreissen lassen, die Mühe einer objektiven Wertvorstellung aufzugeben, um sich stattdessen bequem von der Emotion mitreissen zu lassen, denken sicherlich wenig darüber nach, was das bedeutet, und warum es vielleicht nicht besser ist. Denn es ist einfacher, die zu hassen, die einem als Bösewichte präsentiert werden, anstatt anzuerkennen, dass man zuvor andere solche Bösewichte hat walten lassen, weil man sie nicht so wahrgenommen hat; oder dass die vermeintlichen Bösewichte vielleicht gar keine solche sind, und man nur ein verzerrtes Bild von ihnen hat. Vor allem natürlich, ist es einfach, mit der Mehrheit mitzulaufen. Dem Zeitgeist zu gehorchen, anstatt selber zu denken.

Dieser kurze Text kann unmöglich die vielen brillanten Gedanken zusammenfassen, die uns einst aus dem Mittelalter in die Aufklärung führten, die nicht einmal den Spickzettel einer existierenden aufgeklärten Gesellschaft hatten um aufzuzeigen, warum diese besser wäre, als eine unaufgeklärte Gemeinschaft. Allenfalls kann man ad absurdum gewisse Beispiele aufzeigen, wie zum Beispiel dass derselbe Mob, den man unterstützt solange man mit ihm mitlaufen kann, sich vielleicht einstmals gegen einen selber wendet; oder dass es erschreckend wäre, eines Verbrechens angeklagt und verurteilt zu werden, weil man dem Richter missfällt, ohne dass einem dieses Verbrechen nachgewiesen wurde.

Die westlichen Zivilisationen stehen heute genau an diesem Scheideweg, wo sie entscheiden müssen, zwischen einer rationalen, aufgeklärten Wertvorstellung, die nicht immer emotional gefällig ist, aber dafür eine gerechte und faire Ordnung darstellt; oder einer relativistischen ad-hoc Wertvorstellung, welche sich jederzeit von der irrationalen Emotion mitreissen lässt und all die zertrampelt, die sich nicht dem Mob fügen. Quo vadis?

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Graue-Eule

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