Der zwanzigste Jahrestag vom Beginn des Irak-Krieges hat viele auf den Plan gerufen, die Scheinheiligkeit und Doppelmoral aufzuzeigen, dass dieser unprovozierte illegale Angriffskrieg von der sog. international Gemeinschaft ohne weiteres Akzeptiert wird, ohne dass die abertausenden toten Zivilisten und sonstigen Kriegsverbrechen grössere Erwähnung finden, während der russische Krieg gegen die Ukraine aufs schärfste als ein inakzeptables Verbrechen verurteilt wird. Es ist allerdings nur eine von zahllosen solchen Fällen von einer eklatanten Doppelmoral die im Zeitgeist und, vor allem, im öffentlichen Diskurs problemlos akzeptiert wird. So machte vor einigen Monaten ein Seminar der ETH Zürich Schlagzeilen, weil dieses im Namen der Rassismusbekämpfung, nur für Weisse war. Oder das ab und zu mal wiederkehrende verlangen, eine gesetzlich zugelassene politische Partei im Namen der Demokratie zu verbieten.
Eine Doppelmoral ist grundsätzlich negativ konnotiert, weil sie in Widerspruch zu einer einfachen rationalen Vorgabe steht, dass ein Massstab immer gleich für alle gelten sollte, da es sich ansonsten um Willkür handelt. Allerdings kann (und muss) zumal die Frage gestellt werden, ob es tatsächlich angemessen ist, in einer spezifischen Situation den gleichen Massstab anzuwenden. Ist es das gleiche, wenn ein freies und hochdemokratisches Land wie die USA eine böse unfreie Diktatur wie den Irak invadieren um ihnen Freiheit und Demokratie zu bringen (und wir können uns ganz sicher sein, dass es eben darum ging); wie wenn eine böse unfreie Diktatur wie Russland ein freies und hochdemokratisches Land wie die Ukraine invadieren? Die Formulierung ist selbstverständlich eine Provokation, denn diese Umstände machen je nach Auffassung den Unterschied: Die Ansicht des Exzepzionalismus besagt im Grunde, dass die demokratischen Staaten mit gewissem Niveau an international anerkannten Grundfreiheiten den Autokratien überlegen sind, und somit auch in gewissem Mass die Legitimierung haben könnten, einen solchen Einmarsch vorzunehmen, um das autokratische Regime zu stürzen. Die, sagen wir multipolare Ansicht belässt es eher dabei, dass es nicht Anlegen anderer Länder ist, wie dieser oder jener Staat regiert wird, und eine Intervention nur in extremen Fällen wie z.B. einem voranschreitenden Völkermord berechtigt wäre.
Ein Massstab kann nur innerhalb der Abgrenzung einer Realitätserkenntnis existieren, und muss nur innerhalb dieser kohärent sein. Etabliert man die Realität, dass demokratische Staaten in Autokratien einmarschieren dürfen, so gibt es zwischen der Verurteilung des russischen Einmarsches und der nicht-Verurteilung des amerikanischen Einmarsches keine Doppelmoral. Die Frage die sich alsbald aber stellt ist die, welche Realitätserkenntnis nun gelten soll.
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Bis anhin galten die Vorsätze des Rationalismus: Durch Dialektik, Empirismus und Logik wird eine Realitätserkenntnis abgeleitet, welche sich so weit es geht an eine Wahrheit annähert, immer mit dem Bedenken, dass der Mensch fast niemals eine absolute Wahrheit greifen könnte, wohl aber sich an diese annähern. Besagt man nun, dass alle Menschen, unbeachtet ihrer Hautfarbe oder Geschlecht gleichwertig sind, so wäre die Vorgabe, dass manche aufgrund ebendieser Merkmale besser oder schlechter behandelt werden sollten, wider der Logik, ergo eine Doppelmoral. Etabliert man nun vorangehend, dass gewisse Gruppen systemisch oder systematisch diskriminiert werden, obgleich die systemische Diskriminierung nicht erkennbar im System verankert ist, und die systematische Diskriminierung gesetzlich unterbunden wird, so handelt es sich bereits um eine andere Realitätserkenntnis als die vorangehende, welche eben besagt, dass Diskriminierung nicht zulässig ist und allenfalls als widerrechtliche Handlung entsteht. Ist diese systemisch/systematische Diskriminierung nun als Realität anerkannt, so ist die systematische Diskriminierung, um die vorangehende Diskriminierung wiedergutzumachen, die logische Konsequenz und auch keine Doppelmoral.
Das Problem der Doppelmoral liegt somit nicht in dieser als solche, sondern im Aufprall unterschiedlicher Realitätserkenntnisse. Dieser Konflikt zwischen Erkenntnissen ist die Grundlage der rationalen Dialektik: Eine These wird mir ihrer Antithese konfrontiert, und wenn die These durch die Antithese falsifiziert (d.h. als falsch erwiesen) werden kann, so gilt die These als widerlegt, und eine neue These ist erforderlich, welche die Falsifizierung der vorherigen miteinbezieht. Kann hingegen die Antithese falsifiziert werden, gilt diese als widerlegt und die These bleibt geltend. Hierdurch erlangen wir neues Wissen, das uns an die Wahrheit annähert.
In der Moderne hätte ein solches Anliegen einen dialektischen Prozess zur Folge, welcher zur Erkenntnis führen sollte, ob solch eine Diskriminierung nun vorliegt. Hierfür würden Nachweise für These sowie Antithese erbracht, und je nach dem falsifiziert oder nicht. Die daraus resultierende Erkenntnis müsste, im Idealfall, von beiden Parteien akzeptiert werden, als gemeinsame Grundlage der Realitätserkenntnis. Dies ist die Realität zu welcher man sich sozusagen in gegenseitigem Einvernehmen geeinigt hat, dass sie die vorerst beste Annäherung an die Wahrheit ist. Diese Realität ist jederzeit anfechtbar, wenn zusätzliche Argumente erbracht werden können.
Ein solcher Prozess ist nicht immer ganz einfach, da er teilweise in Konflikt mit der menschlichen Natur steht: Der Mensch tendiert dazu, seine Positionen eher emotional, „aus dem Bauch heraus“ zu treffen, und tut sich folglich schwer damit, eine Erkenntnis zu akzeptieren, welche womöglich wider dieser Position wäre. Dieses Phänomen wird als kognitive Dissonanz bezeichnet. Ein Bewusstsein über diesen Zug der menschlichen Natur ist unumgänglich, wenn man durch rationalistische Prozesse Erkenntnisse erreichen möchte. Es ist auch dieses Phänomen, welches die treibende Kraft gegen die oftmals schmerzhafte Erkenntnisse aus der Dialektik.
In der Postmoderne wird der Prozess der Dialektik nun faktisch ausgesetzt, und manche oder alle Parteien bei einem solchen Konflikt übernehmen einfach ihre jeweilige These bzw. Antithese, ohne den dialektischen Prozess. Aus den Massen an Information, zu welchen wir heutzutage Zugriff haben, werden die herausgepickt, welche zur jeweiligen These passen, um so einen pseudo-dialektischen Prozess vorzunehmen, welcher vorgibt dialektisch zu sein, wodurch das bewusste Verlangen nach dieser dialektischen Legitimation erfüllt ist, jedoch tatsächlich nur die Bestätigung der im Voraus angenommenen Position darstellt. (In meinem Buche „Epistemologie der Postmoderne“ bezeichne ich diese pseudo-Erkenntnis als emotionale Realität, da es eine Auffassung der Realität ist, welche in erster Linie der im Voraus auf emotionaler Basis getroffenen Position folgt, aber vorgibt eine rationale Erkenntnis zu sein.)
Das Resultat hiervon ist, dass sich nun jede Partei innerhalb jeweils anderer Realitäten bewegt, seien diese nun weitgehend rational, d.h. durch tatsächliche Dialektik erörtert, oder vollends eine sog. emotionale Realität. Innerhalb der jeweiligen Realitäten können die Massstäbe nun extrem abweichen, wodurch eine Position eine Doppelmoral sieht, wo die andere nur eine vernünftige Unterscheidung meint. Es erklärt auch, warum die Anfechtung dieser Positionen nun auch als Anfechtung der Realität selber verstanden werden, und zu aggressiven, ausfallenden Reaktionen führt. Ist man sich nicht dieses Vorgangs nicht bewusst, so erkennt man nicht, ob die eigene Realitätserkenntnis tatsächlich rational oder emotional ist.
Ist der Mensch einmal darauf fixiert, dass seine Erkenntnis nun rational ist, so wird der Widerstand, sie anzuzweifeln, umso stärker, denn es handelt sich nach der eigenen Ansicht nicht mehr um eine These, die es nachzuweisen gibt, sondern bereits um das Produkt der Dialektik. Jedoch ist gerade das dialektische Anzweifeln der einzige Nachweis für eine tatsächlich rationale Erkenntnis. Niemals wird das Anzweifeln einer Erkenntnis irgendwie gefährlich oder negativ sein, jedoch deuten Reaktionen von Empörung und sonstiger Emotionalität bereits auf eine Schwäche der vorgegebenen Erkenntnis hin, welche die mögliche Falsifizierung der Erkenntnis schon im Keim unterbinden möchte. Eine Erkenntnis, die als wahrhaftig zu gelten hat und nicht angezweifelt werden darf, nennt sich Dogma.
Was somit geläufig als Doppelmoral erkannt wird, ist letztlich das Resultat einer tieferliegenden Krise des rationalistischen Denkens, und entstammt nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus der Bequemlichkeit, Thesen, welche emotional gefällig sind, kurzerhand zu Erkenntnissen zu erheben, und somit ein irrationales Konstrukt einer Realität zu definieren, innerhalb von welchem andere Massstäbe gelten, jedoch welches schon als solches nicht den „Standards“ einer rationalen Realitätserkenntnis entsprechen.