Essay Nr. 12 aus der Reihe "Anmerkungen zur Postmoderne".

„Verglichen mit diesem Menschen bin ich doch weiser. Wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen.“

Platon: Apologie des Sokrates

Spricht man über das frühe Mittelalter, so spricht man zumal auch über das dunkle Mittelalter, das finstere Zeitalter. Einerseits bezieht sich dieser Ausdruck auf die begrenzte Geschichtsschreibung die aus dieser Zeit erhalten ist, wodurch sie in der historischen Betrachtung «dunkel» erscheint; andererseits deutet es aber auch darauf an, dass ein Zeitalter von weitreichendem Unwissen war. Viele naturwissenschaftliche Phänomene waren nicht verstanden, und nach der vergleichsweise aufgeklärten Ära des alten Roms durchlebte Europa einen gewissen Rückschritt (wenngleich dieser wiederum oftmals in der populären Auffassung stark übertrieben wird).

Erst in der Epoche der Aufklärung, beginnend um das 16. Jahrhundert, wurden enorme Fortschritte in den Auffassungen über Erkenntnis und Wissenschaft getätigt, welche schliesslich in der Definition der wissenschaftlichen Methode mündeten. Im Industriezeitalter beschleunigte sich diese Entwicklung dank des technischen Fortschrittes erneut und führte in die uns bekannte Neuzeit.

Im Übergang zwischen dem «dunklen» und dem «aufgeklärten» Zeitalter war eine bedeutende Entwicklung, dass man sich nicht nur neue Erkenntnisse und damit neues Wissen aneignete, sondern auch dass man ein grösseres Bewusstsein darüber entwickelte, was man nicht wusste.

Zur Zeit der um den Beginn des 21. Jahrhunderts anbrechende Postmoderne war das Resultat der Vorangehenden, bis anhin sich stets beschleunigende Entwicklung der Wissenschaften und der Erkenntnisgewinnung, eine Erwartungshaltung gegenüber der Schöpfung zusätzlicher Erkenntnisse. War einst die praktische Demonstration der Erkenntnisse der ultimative, fast unwiderlegbare Beweis über deren Richtigkeit, so bewegt sich die Wissenschaft nun über die imminente Realität hinaus in die Territorien von Möglichkeiten oder Potentialen. Die inzwischen schon fast infame Modell-basierte Forschung, welche nur selten ihre Resultate zur Kontrolle in der Praxis nachprüfen kann, erfordert nun wenig mehr als ein Glaubensbekenntnis. Treffend kam auch der ungewollt absurde Ausdruck «an die Wissenschaft glauben» auf.

Inzwischen sind wir so weit, dass man für gewisse Sachverhalte unterschiedliche wissenschaftliche Studien heranziehen kann, welche sich frontal widersprechen, aber trotzdem jeweils dem sog. Peer-Review unterzogen worden waren. Die wissenschaftlichen Prozesse obliegen so sehr den Modellierungen komplexer Systeme, dass nur kleine Abweichungen in den Parametern gänzlich unterschiedliche Resultate ergeben können. Keine der Studien wäre an sich falsch, sondern nur anders entworfen. Doch ebenso entspricht auch ihre Aussagekraft nicht der, der Praxis-basierten Wissenschaft.

Hingegen wird es umso einfacher, im vornherein zu definieren, was die Folgerung einer Studie sein soll. Handelt es sich um Themen, welche auf Zukunftsprojektionen ausgelegt sind, ist es faktisch unmöglich, die Behauptung in der Praxis zu beweisen, wie auch zu widerlegen, da erst die Zukunft selber und kein Experiment diese Antwort liefern kann. Dies erlaubt eine ungeheure Instrumentalisierung der Wissenschaft: Jedwede politische, gesellschaftliche, ideologische oder sonstige Absicht kann wissenschaftlich untermauert werden, indem passende Studien in Auftrag gegeben werden.

Was eigentlich nur Auffassungen oder subjektive bzw. relative Standpunkte sein sollten, können sich nun von vermeintlich wissenschaftlicher und damit absoluter Wahrheit umhüllen. Dies hingegen erodiert den Respekt für andere Standpunkte, welche nur noch als wissenschaftsfeindlicher Unsinn wahrgenommen werden. Eine Unterscheidung zwischen dem, was tatsächlich eine eklatante Missachtung von objektiven, praxisorientierten wissenschaftlichen Erkenntnissen wäre und dem, was lediglich andere, legitime Standpunkte sind, welche aber womöglich die modellorientierten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die inhärent relativ und partiell sind, nicht als ein absolut ansehen wollen, wird zunehmend schwieriger, wenn nicht gar unmöglich.

Dieses Phänomen resultiert in einer Konfliktsituation zwischen unterschiedlichen Erkenntnisständen, welche untereinander inkompatibel oder gar widersprüchlich sind. Würde zu jeder Zeit miteinbezogen, dass diese Art modellbasierter Erkenntnisse aufgrund der unterschiedlichen Parameter auch abweichen können und werden, so wäre auch präsent, dass sie keinen Absolutheitsanspruch besitzen sondern gleichwertig sind, und diese Art von Abweichungen entweder auf einen komplexen Sachverhalt deuten, welcher weiter betrachtet und studiert werden muss, bis eine grössere Klarheit besteht (sofern diese überhaupt zu erreichen sein sollte), oder dass eine Instrumentalisierung auf Grundlage anderweitiger Interessen vorliegt. Wird dies nicht miteinbezogen, so wird die Anerkennung eines gewissen gemeinsamen Wissensstandes verunmöglicht, und der öffentliche Diskurs verkommt zu einer Art von dialektischem Bürgerkrieg, in welchem sich unterschiedliche Positionen, die sich beide in absolutem Mass legitimiert meinen, um die Deutungshoheit bekriegen.

Im dunklen Mittelalter war es das Fehlen von Erkenntnissen, welches zu einer aggressiven Auseinandersetzung um eine dogmatische Deutungshoheit führte. In der Postmoderne ist der Überfluss an solchen Erkenntnissen, wie auch die Missachtung von deren Variabilität, was den Wert der Erkenntnisse zu Nichte macht, und folglich zu einer entsprechenden Auseinandersetzung um die dogmatische Deutungshoheit führt. War es damals also ein «dunkles» Zeitalter, in welchem das «Licht» der Erkenntnis fehlten, so muss man heute von einem «verblendeten» Zeitalter sprechen, in welchem dieses «Licht» so hell scheint, dass es blendet. In beiden Fällen wird eine rationale Orientierung gleichwohl erschwert oder gar verunmöglicht.

Zwischen der Gegenwart und dem Mittelalter entsteht ein direkter Bezug, damals wie heute tappt man weitgehend im Dunkeln über die komplexen Phänomene der Realität, und damals wie Heute ist das Resultat die Verunmöglichung eines öffentlichen Diskurses, welcher stattdessen durch einen Machtkampf um die Deutungshoheit über das herrschende Dogma ersetzt wird.

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