Aus Angst vor der Unkenntnis ordnet die Postmoderne jeglichen Zweifel etablierter Erkenntnisse dem Relativismus oder Postfaktizismus zu, und negiert somit implizit die Dialektik
Im Jahre 1895, so geht die Legende, haben die Gebrüder Lumière die erste Filmprojektion präsentiert, mit einem Film in welchem ein Zug in einen Bahnhof einfährt. Die Zuschauer seien dann erschrocken, weil sie dachten der Zug würde gleich aus der Leinwand hinaustreten.
Die Legende stimmt wahrscheinlich so nicht. Dia-Projektionen, sogar kleine Schauspiele mit verschiedenen, sich bewegenden Elementen die projiziert wurden, waren um diese Zeit bereits als Unterhaltung geläufig, und Edison hatte schon ein Paar Jahre zuvor das Kinetoskop auf den Markt gebracht, welches Filmbilder durch ein Guckloch betrachten liess. Die Filmprojektion war im Grunde eine Kombination dieser beiden Konzepte, und in einer Zeit von rasantem technischem Fortschritt, wo man sich auch in der bei der erst kürzlich entstandenen Mittelklasse beliebten Unterhaltung immerzu versuchte zu überbieten, war die Filmprojektion nur eine von unzähligen Erfindungen, um die Kunden zu locken, mit dem kuriosen Unterschied, dass diese eine damals sehr wohl unerwartete Transzendenz erlebte. Von daher ist diese Legende sicherlich im Nachhinein hinzugedichtet worden, da der später entstandenen Bedeutung des filmischen Mediums rückwirkend auch seine Entstehung dramatisiert wurde. Denkbar wäre aber, dass einige Leute vielleicht reflexartig reagierten, so wie wir es aus 3D-Projektionen kennen, wo der Eindruck so echt ist, dass man einen Augenblick lang vergisst, dass es nur ein Trick ist, und eben eine unfreiwillige physische Reaktion in Form von Zucken, Ausweichen oder Erheben der Arme erbringt.
Kranich17/pixabay https://pixabay.com/de/photos/holzpfl%c3%b6cke-meer-k%c3%bcste-wellen-7610106/
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Diese unterhaltsame historische Fussnote ist aus epistemologischer Sicht faszinierend, weil sie sich durch mehrere Ebenen der Wahrnehmung von Realität und Bild durchzieht. Die erste Ebene ist das in der Anekdote vorgeführte Geschehen, worin die Zuschauer des Filmes voller Angst und Schrecken hinter die Tische und Stühle des Salon Indien du Grand Café in Paris sprangen, um sich vor dem vermeintlich gleich aus der Leinwand herausbrechenden Zug zu retten. Hierdurch wird eine Unfähigkeit, Projektion von Realität zu unterscheiden, aufgezeigt. Die Zuschauer, in ihrer Ignoranz, hätten nicht verstanden was eine Filmprojektion ist, und das bewegte Bild für eine physische Realität gehalten. Dies ist der thematische und erzählerische Kern der Anekdote, welcher vom Verständnis über (Film)bild und Realität bzw. der ignoranten Abwesenheit dessen handelt.
Auf einer zweiten Ebene ist die Anekdote an sich. Eine Erzählung, die eben keinen historischen oder logischen Nachweis hat, sondern eben eine Legende mit einem kleinen Kern an Wahrheit und viel dazu Erfundenen ist, sich aber trotzdem eingebürgert hat, und auch als vermeintlicher Fakt weitergegeben wird. Die Vorstellung, fein gekleideter Herrschaften in der Belle Epoque, welche sich wie naive Kinder vor einer harmlosen Filmprojektion fürchten, hat etwas reizvolles, denn es stellt eine witzige Vorstellung dar, die uns die Menschen aus dieser Zeit, wenig mehr als ein Jahrhundert her, belächeln lässt, und uns einen Nimbus von Überlegenheit ob unseres besseren Verständnisses über alltägliche Technik, wie eben eine Filmprojektion, verleiht. Uns würde so etwas natürlich nie passieren, aber die Leute damals waren ja viel dümmer und wussten es nicht besser.
Die Anekdote greift also gleich mehrfach, sie ist witzig, sie ist glaubhaft, sie hat einen Kern von Wahrheit, sie illustriert eine bedeutende Entwicklung (der Ursprungsmythos des Filmes), sie präsentiert uns (angeblich) die Ansichten oder Auffassungen dieser Zeit, und sie erhebt uns zu etwas Besserem. Alle guten „urban legends“ funktionieren in etwa so, dass sie nicht einfach nur eine willkürliche Anekdote sind, sondern auch den richtigen Nerv treffen, wie nur der richtige Schlüssel ein Schloss öffnet.
Eine ähnliche solche Anekdote ist auch die vermeintliche Massenpanik, die durch Orson Welles' Radioversion vom Krieg der Welten ausgelöst worden sei. Auch hier vermischt sich Fakt mit Fiktion, zumal einerseits tatsächlich einige Menschen in Panik versetzt wurden, aber nicht weil sie (o naive Dorftrottel) tatsächlich glaubten, dass die Marsmenschen die Erde invadierten, sondern weil sie die Sendung schon angefangen einschalteten und, angesichts der politischen Situation von 1938, meinten es handle sich um einen tatsächlichen Kriegerischen Akt. Ebenfalls soll diese Panik auch später von den Zeitungen im Kampf um schwindende Leserschaft stark übertrieben worden sein. Auch hier kann man sehen, wie eine solche Anekdote, ähnlich wie die des Filmes vom einfahrenden Zug, genau den richtigen Nerv trifft, um sich als Legende einzubürgern. (Es sei erwähnt, dass diese Radiosendung im wahrsten Sinne des Wortes schaurig gut gemacht ist, und es sich, für wen genügend Verständnis der englischen Sprache hat, durchaus lohnt, sie einmal anzuhören. Sie ist aufgrund verfallenen Urheberrechtes im Internet leicht zu finden.)
Die dritte Ebene der Wahrnehmung im Bezug auf diese Anekdote, ist die schlussendliche Erkenntnis, dass es eben nur ein Gespinst ist, mit einem sehr seichten Bezug zur Realität. Hier bildet sich eine tiefgreifende Ironie, worin die Auffassung über dieses fiktive Geschehnis als vermeintliche Realität den Inhalt der Anekdote, worin ein Bild als Realität wahrgenommen wird, passgenau widerspiegelt. Die Leute, die also diese Anekdote glaub(t)en, sind im Grunde genau dem Phänomen einer vorgespielten Realität auf den Leim gegangen, wie die angeblichen erschreckten Zuschauer in der Anekdote selbst. Und erst in der dritten Ebene wird durch das Anzweifeln der zweiten Ebene eine Erkenntnis erlangt, die sich der Realität annähert, zugleich mit dem Makel, dass es eben keine absolute Erkenntnis darstellen kann: Es ist schlussendlich unmöglich, mit vollkommener Genauigkeit zu wissen, was tatsächlich bei der Filmprojektion geschah. Es ist nicht gänzlich unmöglich, dass die Leute so erschrocken sind, wie es die Anekdote erzählt, nur gibt es hierfür keinen Nachweis und auch wäre es nicht logisch nachvollziehbar. Auch war der relevante Film L'Arrivée d'un train en gare de La Ciotat nicht Teil des allerersten Programms des Cinematographe Lumière, wodurch schon mal die Annahme, es sei der erste Film gewesen, gar nicht stimmt.
Aus semiotischer Sicht wird in der dritten Ebene der einstige Signifikant, die Erzählung, die als Signifikat eine Realität vorgibt; selber zum Signifikat, nun das Phänomen der fiktiven Anekdote, welche als vermeintliche Realität verstanden wird oder wurde. Es ist diese Entwicklung, worin Signifikant selbst zu Signifikat wird, welche sich traumatisierend auswirken kann, da sie den Ausbruch aus einer akzeptierten Erkenntnis der Realität bedeutet, und zugleich das Symbol bzw. das Bild, als fast schon unverzichtbares Hilfsmittel für Verständnis und Erkenntnis einer fast unendlich komplexen Realität, in Frage stellt. Im Fehlen der Gewissheit, welche durch das überschaubare Bild übermittelt wird entsteht ein unerträglicher Zweifel an der Realität selber, welche somit undurchdringbar wird. Aus diesem Grund entsteht der Wille, sich wider jeder Offenlegung an das ursprüngliche Bild zu klammern, um so den Anschein von Erkenntnis, von Klarheit, von Wahrheit im eigenen Geist zu erhalten.
Als ich eine, zugegeben nicht besonders ausgefeilte, Kurzgeschichte „Das grosse Theater“ publizierte, war die Reaktion zumal extrem aggressiv, weit mehr, als es für eine solche banale Erzählung nachvollziehbar gewesen wäre. Jedoch offenbart der hier vorgelegte Gedankengang, wie die Vorstellung, dass einerseits unsere Wahrnehmung der Realität grösstenteils über Bilder geschieht, und dass andererseits diese Bilder trügerisch sein können, eine Urangst auslöst, die Angst vor dem Unbekannten. Denn wie Lovecraft treffend schrieb: „Das älteste und stärkste Gefühl ist Angst, die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten.“
Die Angst vor dem Unbekannten wird in der immer komplexeren Welt, vor allem in einer Welt, in welcher diese Komplexität nun durch sich immer weiter entwickelnde Kommunikation auch stärker zu erfahren ist, zum Treiber des Begehrens nach Antworten, und führt gleichzeitig zu einer heftigen Reaktion gegen all das, was diese Antworten als zweifelhaft oder gar falsch entlarven könnte. Der dialektische Zweifel, welcher unausweichlicher Ursprung jeder Erkenntnis ist, wird perverserweise mit Relativismus und Postfaktizismus gleichgestellt, wodurch eine Vorspiegelung greifbarer, absoluter Wahrheit abgezeichnet wird. Dies ist letztendlich die Überwindung der Dialektik selbst, und damit aller erkenntnistheoretischen Grundlagen der Aufklärung.
Diese Situation ist womöglich als Reaktion auf die Entwicklung in der Erkenntnisgewinnung zu deuten: Einerseits eine durch das Gesetz des abnehmenden Ertrages hervorgerufene Verlangsamung der erreichten Erkenntnisse; andererseits der immer schwerer zu greifende Fragestellungen, bis hin zum Abstrakten, Metaphysischen oder Subjektiven; aber auch durch die durch vorangehende Erkenntnisse hervorgerufene Vorurteile und Vorstellungen, welche, wie im Beispiel der historischen Anekdote, nun im Anschluss an deren Akzeptanz, neu aufgerollt werden müssten; und letztendlich auch durch die Abwesenheit des Glaubens als letztendliche transzendentale Antwort auf die Fragen der Metaphysik. Der Psychologe Herbert Gerjuoy erkannte zutreffend: „Der Analphabet des 21. Jahrhunderts wird nicht der sein, der nicht lesen und schreiben kann, sondern der, der nicht gelernt hat, zu lernen.“
Die Emotionalität, welche am Ursprung vieler vermeintlicher, aber nachweislich zweifelhafter oder falscher Erkenntnisse, welche sich wie Lauffeuer verbreiten und vehement verteidigt werden, steht, ist durch diese Angst vor dem Unbekannten (bzw. vor dem Unwissen) zu verstehen, und wird zum Wegweiser einer zufriedenstellenden Ausflucht. Der Volksmund sagt „der Wunsch ist Vater des Gedanken“ und „es kann nicht sein was nicht darf sein“.
Der derzeitige Zeitgeist entspricht einer Periode der Anpassung an diese, nach der rasanten Entwicklung der Moderne, quasi neuentdeckten Angst vor dem Unbekannten. Unangenehme Fragestellungen und Debatten werden deshalb mit dialektischer, manchmal auch physischer, Gewalt unterdrückt, eher als dass der (womöglich vorerst) unüberwindbare Zweifel und damit das bewusste Unwissen akzeptiert würde. Ebenfalls entstehen Konflikte auf unterschiedenen Ebenen, gesellschaftlich wie politisch, welche in ihrem Kern nichts anderes tragen, als die Angst, akzeptierte Erkenntnisse wieder dem Zweifel zu unterwerfen. Erst die Akzeptanz dieser Angst vor dem Unbekannten, welche den Menschen seit Anbeginn seiner Existenz begleitet hat, wird mit der Zeit die Gemüter wieder beruhigen können.
A. M. Berger ist Schriftsteller und Philosoph