Einer der Grundpfeiler des progressivistischen Denkens ist die Dekonstruktion, das in Frage Stellen und Auseinandernehmen existierender Strukturen, welche als ein Laster für die menschliche Entwicklung gesehen werden. Das ist logisch: Der Mensch kann sich nur weiterentwickeln, wenn er das etablierte in Frage stellt und, sofern erforderlich, überwindet und erneuert. In der Postmoderne erreicht diese dekonstruktivistische Idee eine meta-Ebene: anstatt dass Strukturen dekonstruiert und neu errichtet werden, wird das Konzept dieser Strukturen selber dekonstruiert, die Idee, dass es solche Strukturen überhaupt braucht wird in Frage gestellt.

Eine Studie, die einst durchgeführt wurde, ergab, dass wenn Menschen eine grössere Auswahl beim Einkaufen haben, sie weniger zufrieden sind. Der Volksmund nennt das „die Qual der Wahl“. Bei gesellschaftlichen Strukturen verhält es sich in gewisser Weise ähnlich: muss das Individuum sich seinen Bezugsrahmen selber definieren und zusammenstellen, so mag das aufs Erste als eine grosse Befreiung von den Fesseln der etablierten Strukturen darstellen, doch ebenfalls bedeutet es die Abwesenheit eines Leitfadens sowohl für das eigene Dasein, wie auch für das Zusammenleben.

Ideen einer geteilten Kultur, Religion, oder neuerdings sogar Sprache werden dekonstruiert, denn sie sind, so die progressivistische Auffassung, die Wurzel allen Übels. Nationalismus, zum Beispiel, führe bekanntlich zu Hass und Ausgrenzung und in letzter Instanz den totalitären Bewegungen die das frühe 20. Jahrhundert geprägt haben. Natürlich ist auch ethnische Homogenität ebenso nichts als ein Makel und Ursprung von Rassismus, „#TeamUmvolkung“ macht sich nunmehr freudig daran, die „eklig-weisse Mehrheitsgesellschaft“ bunter zu machen.

Ein gesellschaftliches Zusammenleben erfordert in gewissem Masse eine gemeinsame Identität, welche einerseits die Grundlagen von Moralität und Wertvorstellung ergibt, aber die auch den Sinn der Brüderlichkeit, der Zusammengehörigkeit schafft, welcher zu einer Bereitschaft führt, gegenseitig Zugeständnisse zu machen. Wenn in einer Gesellschaft jeder nur konstant auf Kriegsfuss mit dem Nächsten ist, ist auch keiner bereit, irgend einen Kompromiss zu finden, und Konflikte können nicht mehr ohne eine übergeordnete Autorität gelöst werden.

Der Dekonstruktivismus sieht das eine solche Idee von Zusammengehörigkeit eines Volkes als ein Problem, weil das gesellschaftliche Zusammengehören in Funktion einer Identität unweigerlich bedeutet, dass die, die diese Identität nicht teilen, auch nicht dazugehören, sondern ausgeschlossen werden. Wahrlich, die Dekonstruktion der Identität löst zwar dieses Problem, jedoch mit einem viel grösseren Problem, nämlich der völligen Abwesenheit von Identität, Zugehörigkeit, und damit Brüderlichkeit. Keiner ist mehr ausgeschlossen, weil es gar keine Gesellschaft mehr gibt, aus der man ausgeschlossen werden könnte.

Dies bedeutet dass, während es einst eine Ebene des relativ starren gesellschaftlichen Konsens, und darunter eine Ebene des flexiblen Dissens gab, erstere nun nicht mehr existiert, und ihre Funktion in letztere übergeht. In der Praxis ist dies ersichtlich, indem immanente Themen zu struktureller Bedeutung erhoben werden (welch besseres Beispiel als ein Krieg, fernab des eigenen Landes, zwischen Ländern mit denen keinerlei Militärbündnis existiert, welcher behandelt wird, als sei er für die hiesige Gesellschaft existenziell transzendent), und gleichzeitig sehr wandelbar sind (wie die Pandemie innert weniger Monate von der Existenzbedrohung zur Irrelevanz hinüberging). Jedwedes halbwegs polemisches Thema ist nun eine Auseinandersetzung, von welcher das Fortbestehen unserer Zivilisation abhängen soll. Ohne einen klaren Rahmen ist es schliesslich unmöglich, die Perspektive und Proportion für diese Themen zu behalten. Alles ist gleichzeitig unbedeutend und von existenzieller Bedeutung.

Die Leere, die von der Dekonstruktion der gemeinsamen Identität und damit der gesellschaftlichen Strukturen übrig bleibt, macht die Gesellschaft zu einem Behälter, der durch den Zeitgeist befüllt werden, und ebenso wieder entleert werden kann. Anstatt dass es gewichtige Themen von grossem Belangen gibt, welche die Gesellschaft über längere Zeit begleiten, und kleinere Themen des jeweiligen Momentes, welche in ihrer angemessenen Bedeutung wahrgenommen werden, gibt es nur noch das Weltbewegende, was sich in schnellem Rhythmus abwechselt und ablöst. Die sachliche Betrachtung dessen, was wichtig ist, und dessen, was zweitrangig ist, wird hingegen verunmöglicht. Der öffentliche Diskurs, wie er einst verstanden war, existiert nicht mehr, ausser als Simulacrum seiner selbst.

Dieser Text ist der 11. Essay in der Reihe „Anmerkungen zur Postmoderne“. Für ein weiterführendes Verständnis über die Postmoderne lesen sie das Präambel zur Epistemologie der Postmoderne.

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