Es stimmt schon, was satirisch derzeit gesagt wird: Wegen eines Virus mit über 99%iger Überlebensrate hat man Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Erkrankungen zu verhindern, um, angeblich, die Vulnerabelsten zu schützen; und jetzt spielt man plötzlich mit der Idee eines nuklearen Weltkrieges wie Paulinchen mit den Streichhölzern. Und wie diese Geschichte zu Ende ging, ist bekannt.
In diesem Kontext erhofft man sich von den sog. Leitmedien eine besonnene Berichterstattung, zumal es diese Leitmedien waren, welche über die letzten zwei Jahre das inzwischen völlig zerfallene Corona-Narrativ im öffentlichen Diskurs getragen haben, immer mit der Moralkeule im Namen des Allgemeinwohls. Doch eigentlich zeigt sich nun die Fortsetzung davon, dass in diesen Medien keinerlei Gewissenhaftigkeit mehr existiert, sei es für Fakten, für Wahrheit oder einfach für verantwortungsvolle, erwachsene Ansichten.
Die Neue Zürcher Zeitung, einst eine der angesehensten Zeitungen im deutschsprachigen Raum, schafft es, einen neuen Tiefpunkt zu erreichen, man könnte gar sagen, beim Tiefpunkt angekommen zu graben anzufangen, indem ein Gastkommentar die Bedrohung eines nuklearen Weltkrieges, welcher bestenfalls dutzenden Millionen von Menschen das Leben kosten, schlimmstenfalls die Menschheit ausradieren würde, völlig zu bagatellisieren.
Der Autor verwendet den kruden Neologismus "Vulgär-Realismus" um jegliche verantwortungsvolle Auffassung dieser brandgefährlichen Situation unsubtil aber mit einem Nimbus von Einblick zu diskreditieren, und behauptet nicht nur, dass das Eingehen auf atomare Drohungen nichts bringen würde, sondern sogar dass es eine "antiquierte Einschätzung der Konfliktforschung" sei. Weshalb er letzteres behauptet bleibt hinter der Bezahlschranke verborgen, aber man kann annehmen, dass der hochoriginelle Vergleich mit der Appeasement-Politik irgendwo vorkommen mag. Dies scheint generell das einzige Argument zu sein, dass die hellen Lichter vorbringen können, welche freudig dem Atomkrieg ins Gesicht lachen, wie ein Dirty Harry einfach mit Verachtung in den Lauf der auf ihn gerichteten Pistole schauen würde und seinen Gegner herausfordert, abzudrücken.
Unabhängig der jeweiligen Ansicht über die geopolitischen Hintergründe dieses Krieges entbehrt es jeder Rationalität, jeder Verantwortung, jeder Glaubwürdigkeit, die Drohung eines Einsatzes von Atomwaffen auf solche Art zu banalisieren. Es scheint, manch Einer ist so in diesen Konflikt vernarrt, dass er lieber die Menschheit vernichtet sehen wollte, als dass ein ungerechtes Ende dieses Konfliktes erreicht würde.
Trotz der Meinungsverschiedenheiten, die es zu diesen Konflikt geben könnte, trotz der Unterschiede in der Auffassung zu den Hintergründen, trotz jeglicher Diskussion über Fakten, Lügen und Propaganda, sollten alle Menschen, die noch mindestens einen letzten Rest an Vernunft in sich tragen, sich wenigstens einig sein können, dass ein Atomkrieg, oder gar die Andeutung auf einen möglichen Atomkrieg, nicht einfach so hingenommen werden kann.
Das Atompatt während des kalten Krieges war ein solches, weil beiden Seiten bewusst war, dass niemand etwas davon hätte, einen solchen Atomkrieg anzufangen. Obgleich wir keinen Zugang in die Gedankenwelt des Widersachers (oder, in dieser Hinsicht, auch nicht der der eigenen Führungsschicht) haben, zeigt die Auffassung, dass hier eine Seite eine schonungslose Erpressung durchführe, von einer Abwesenheit von Empathie, von einer Projektion karikaturesker Boshaftigkeit des Gegners, der eher beide Zerstört als zu verlieren. Und ironischerweise entspricht genau diese Projektion dem, was ja der o.g. NZZ-Kommentar unterbreitet: 'Eher wäre ich bereit, die Welt in Schutt und Asche zu legen, als dass ich auf deine Drohung eingehe.'
Bei einem Atompatt kann es im Grunde genommen nur zwei Auffassungen geben: Entweder, dass beide Seiten im Grunde nichts von einem Atomkrieg hätten und die Atomwaffen eigentlich nur als Abschreckung vor möglichen Übergriffen haben (im Sinne dass bei der Zerstörung des Einen auch der Andere zerstört würde), und folglich jegliche vermeintliche "Erpressung" auf keine masslose Forderung ist (da dies ja bedeuten würde, dass man tatsächlich bereit ist, ohne existenzielle Bedrohung die Atomwaffen einzusetzen); oder aber, dass zumindest eine Seite bereit ist, die Atomwaffen zur tatsächlichen Erpressung zu verwenden, wie der Film-Bösewicht, der damit droht, die Welt zu zerstören, wenn er nicht bekommt was er fordert. Keine dieser Auffassungen würde die Ansicht rechtfertigen, die der NZZ-Kommentar darlegt, nämlich dass man die Drohung einfach nicht ernst nehmen sollte. Im ersten Fall wäre die Situation entsprechend der Kubakrise mit Zugeständnissen auf Beiden Seiten zu lösen (da ja beide Seiten im Grunde das Interesse haben, die Situation zu entschärfen). Im zweiten Fall wäre die Sache etwas komplizierter, denn die Wahl wäre zwischen dem Bösewicht das geben, was er fordert, oder die Welt zu zerstören (oder allenfalls einen James Bond, Harry Palmer oder Austin Powers zu finden, der dem Bösewicht verstohlen den Garaus machen kann, bevor dieser seinen Plan umsetzt).
Es gibt keine denkbare Möglichkeit, in keiner denkbaren Situation, in keinem denkbaren Kontext, dass eine solche Drohung entschärft wird, indem man sie einfach nicht ernst nimmt. Man würde lediglich darauf Wetten, dass es nur ein Bluff ist, mit Wetteinsatz eines möglichen Atomkrieges.
Dass wir an diesem Punkt angelangt sind, wo einstmals seriöse Zeitungen ohne weiteres Kommentare publizieren, welche besagen, man solle sich einfach nichts aus der Drohung von einem Atomkrieg machen, sagt vieles über den postmodernen Zeitgeist aus: So etwa, dass die eigene Ansicht, indem diese nicht dialektisch erörtert wird, auch nicht als möglicherweise imperfekt gesehen wird, sondern als absolutes Dogma. Entsprechend gibt es auch keinen Grund, Empathie zu zeigen, mit dem der eine andere Ansicht hegt, sei es nun ein Andersdenkender oder gar der Widersacher selbst. Dies erlaubt gefährlicherweise die Dehumanisierung des Andersdenkenden, da diesem keine rationale, wenn auch falsche, Erörterung seines Standpunktes gewährt wird. Es gibt nicht mehr verschiedene Meinungen, sondern nur eine Meinung und endlose Hirngespinste.
Ferner wird auch bezüglich dieses Zeitgeistes ersichtlich, wie die Realität ab der Emotionalität konstruiert wird: Da man das Gefühl hat, die Drohung eines Atomkrieges sei ein Bluff, erhebt man dies von einer Möglichkeit (eine Andere wäre, dass es kein Bluff ist, mit verheerenden Konsequenzen) zu einer unweigerlichen Tatsache. Es gibt gar keine andere Möglichkeit mehr, man muss also solche Eventualitäten gar nicht mit einbezehen.
Es ist noch nie in der Geschichte der Menschheit vorgekommen, dass die realistische Möglichkeit der vollkommenen Vernichtung mit einer abwesenheit von rationalem Denken dieses Kalibers zusammengestossen ist. Die Möglichkeit einer solchen Vernichtung konnte nur dadurch entstehen, dass das rationale Denken zu einer modernen Wissenschaft führte, welche überhaupt die Mittel zu solcher Vernichtung schuf. Nun treten wir in das Zeitalter ein, in welchem diese Mittel nicht mehr über den Vorbehalt von rationalem Denken verfügen. Wer selber noch die Kapazität dazu besitzt weiss, dass es viele verschiedene Möglichkeit gibt, wie diese Situation ausgehen könnte, und dass eine davon eine Kalamität von noch nie gekanntem Ausmass mitsich bringt. Die anderen haben diese Möglichkeit schon längst ausgeschlossen. Wie Paulinchen, glauben sie nicht, dass sie sich mit den Streichhölzern verbrennen werden.