Was hält die gesellschaftliche Ordnung aufrecht?

Bekanntlich schätzt man das, was man hat, erst dann, wenn es fehlt. In den Europäischen Kulturen nehmen wir die gesellschaftliche Ordnung als etwas selbstverständliches wahr. Wenn auch nicht immer alles perfekt funktioniert, so herrscht keine chaotische Anarchie, wie man sie aus gescheiterten Staaten in fernen Regionen der Welt kennt, sondern es gibt eine gewisse Ordnung. Bis es sie mal nicht gibt.

1919 begann in den USA ein bizarres Kapitel der Geschichte, als entschieden wurde, den Alkohol zu verbieten. Bier, Wein, Schnaps, Getränke die seit hunderten von Jahren konsumiert wurden, waren nun illegale Waren, die nur noch über Schmuggel und Schwarzmarkt bezogen werden konnten. Logischerweise kam irgendwoher die Ansicht, dass dies gut und richtig für das Land sei, trotzdem aber war dieses Gesetz in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt, so sehr, dass in einem industrialisierten, zivilisierten Land plötzlich die Menschen massenhaft begannen, gegen dieses Gesetz zu verstossen. Mafiaorganisationen wuchsen enorm durch das Geschäft mit dem verbotenen Alkohol, und die Hüter des Gesetzes konnten, obgleich sie immer härter durchgriffen, einfach nicht mit dem illegalen Alkoholhandel mithalten. Das Gesetz konnte zu keiner Zeit wirklich in vollem Umfang durchgesetzt werden, und wurde schlussendlich 1933 aufgehoben.

In anderer Sache gab es diesen Sommer die Nachricht, dass bei einer Schlägerei in einem Berliner Freibad ganze 60 Polizisten hatten anrücken müssen, um dieser ein Ende zu bereiten, d.h. die Ordnung wiederherzustellen, indem sie von der Staatsgewalt durchgesetzt wird. Doch wenn 60 Polizisten für eine Schlägerei zwischen ca. 250 Personen notwendig sind, ist es nach Adam Riese gleich ersichtlich, dass wenn man so etwas skaliert, es faktisch nicht möglich wäre, bei Millionen von Menschen die Ordnung durchzusetzen.

Die vorangehenden Beispiele zeigen auf, dass die forcierte Durchsetzung der Ordnung eigentlich nur in einem begrenzten Mass möglich ist, und die logische Schlussfolgerung besagt, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht durch Aufzwingen erhalten wird, sondern weil sie irgendwie freiwillig, oder zumindest willig, von der Mehrheit getragen wird, sei es durch Überzeugung, oder durch die Furcht vor Strafe.

Was also, wenn eine Mehrheit diese Ordnung nicht bereit ist zu tragen? Was also, wenn morgen die Hälfte, oder gar nur ein Viertel der Bevölkerung, sich partout weigert, die Regeln und Gesetze zu befolgen? Die Ordnungskräfte könnten sicherlich anfangen, diesen Leuten nachzugehen, aber in der Praxis würde der Aufwand wohl nur reichen, um einen Bruchteil davon zu ahnden. Währenddessen könnten die anderen ihr Unwesen treiben. Man traut sich nicht mehr allein auf die Strasse, Kommunikation fällt aus weil die Leitungen geklaut werden, Geschäfte werden ohne weiteres ausgeraubt. Es wäre schlicht unmöglich für die Ordnungskräfte, die gesellschaftliche Ordnung in einer solchen Situation aufzuzwingen.

Mancherorts herrschen bekanntlich solche Zustände. In den meisten Lateinamerikanischen Staaten gibt es nicht das Niveau an Sicherheit, dass man sich in Europa gewohnt wäre. Die Polizei in solchen Ländern ist zumal für vergleichsweise wenig Geld bestechlich, Häuser wohlhabender Leute sind mit Hochspannungszäunen ausgestattet, manche haben bewaffnete Leibwächter in ihrem Dienst. Und diese Zustände sind noch vergleichsweise Zivilisiert, im Vergleich mit manchen Afrikanischen Staaten, wo jegliche Ordnung fast gänzlich zusammengebrochen ist, und in der Praxis Anarchie herrscht. Fehlt in solchen Ländern die Abschreckung, weil die Ordnungskräfte zu unwirksam sind? Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass eine gesellschaftliche Ordnung sich dadurch aufrechterhalten lässt, dass eine Mehrheit der Leute Angst vor Verfolgung und Strafe haben. Aber so gesehen wäre es vergleichsweise einfach, in selbst chaotischen Gesellschaften Ordnung zu schaffen, indem man autoritär durchgreift. Dass dies aber offensichtlich nicht in vollem Mass wirksam ist, um eine fortgeschrittene Ordnung zu schaffen, zeigt, dass Autoritarismus alleine nicht zu einer gesellschaftlichen Ordnung führt, wie wir sie kennen.

Es scheint eher, dass eine solche Ordnung in erster Linie gesellschaftlich inhärent ist. Wenn am morgigen Tag hier in der Schweiz jegliche Autorität verschwinden würde, keine Polizei mehr existierte, um Gesetze zu vollstrecken, dann würde die Gesellschaft grösstenteils weiter funktionieren. Sicher gäbe es einige Kriminelle die sich nun austoben würden, aber die meisten Leute respektieren einander aus Überzeugung, und würden nicht gleich der ersten Grossmutter den Geldbeutel klauen, nur weil sie wüssten, dass keine Strafe darauf folgt.

Die Idee, dass die gesellschaftliche Ordnung also auferlegt wird bzw. werden kann, ist ein Trugschluss. Eine Gesellschaft verfügt nur über so viel Ordnung, wie ihre Mitglieder grösstenteils bereit sind, beizutragen. Weder zerfällt sie durch eine kleine Minderheit an Störenfrieden, noch kann sie durch eine kleine Minderheit an herausragenden Persönlichkeiten getragen werden. Es ist die Gesellschaft selbst, die Menschen welche ihre Bestandteile sind, welche in Gemeinschaft der zentrale Pfeiler ist, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Und kommt es einstmals dazu, dass diese Auffassung als mehrheitliches Denken erodiert, so wird auch die gesellschaftliche Ordnung wie man sie einst kannte zerfallen.

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