Ein paar Tage vor diesem Schulschluss Tag muss der Umsatz von Klarsichtfolien in einen Jahresausnahmehimmel steigen. So viele Kinder und Jugendliche sah ich da mit ihren Zeugnissen in Klarsichtfolien entlang meiner Radtour auf meinem morgendlichen Weg raus aus der Stadt, in grösseren und kleineren Gruppen vor Schulen, mit Mama oder Papa am nach Hause Weg zur U-Bahn, einsam und allein vor sich hintrödelnd und mit etwas zerquetschten Gesichtszügen am Gehsteig dahintrottend oder, wie gerade eben, ein paar in weiss gekleidete Volksschulprinzessinnen, tanzend, sich drehend, spingend und trunken vor Glück.

Das erinnerte mich augenblicklich an dieses wunderbare, fantastisch befreiende Gefühl des Ferienbeginns damals in den 60igern, Anfang der 70iger Jahre, als sich am letzten Schultag dieses riesengrosse, wunderbare Tor zu einer schier nicht enden wollenden Freiheit und einem unfassbaren grenzenlosen Glück auftat, von dem ich bezweifle, dass dies Kinder heutzutage noch in dieser reinen, puren Intensität wahrnehmen und erleben dürfen bzw. können. Ein Gefühl, das ich heute nur vom Musik machen, in der Natur sein, Meditieren oder im Kreise meiner Liebsten und meiner und deren Kinder und Enkelkinder kenne. Es war nicht ein Gefühl etwas zu haben oder etwas zu bekommen, die „Noten“ waren eigentlich vollkommen nebensächlich – nein: es war das geilste Gefühl etwas „zu sein“ – „frei“

Frei von drei Viertel Stunden langen , morgendlichen Fussmärschen in die alte Dorfvolksschule unten in Grafendorf oder vollkommen verschlafen und noch halb im Träumeland um Viertel vor Sechs an der Bushaltestelle zu sein, um den gelben Postbus nach Gleisdorf ins Gymnasium zu erwischen, der immer ein bisschen nach alten Jausenbroten, Schweissfüssen und verschüttetem Schulkakao gerochen hatte. Frei von sinnlosem Latein Vokabel Lernen und dem Übersetzen von doofen Texten von Caesar oder Ovid, frei von studenlangem Winkelstehen weil einen wieder einmal im unpassendsten, ernsthaftesten Moment ein Lachanfall heimgesucht hatte oder – ja , auch das gabs damals noch – Scheitelknien wegen „frech“ und unaufmerksam seins im Unterricht vom alten Volksschuldirektor, wie auch immer er geheissen haben mag. Frei von Versagensängsten vor Mathe Prüfungen und Schularbeiten, von extrem faden Geschichte oder Physik Unterrichtsstunden, vom Vokabelbüffeln, vollkommen sinnlosem Runden drehen , im Kreis gehen und Jausenbrote verschlingend im Schulhof, kurz: frei von Prüfungen, Bewertungen, Benotungen, Evaluierungen, Bestrafungen, Pflichten und Vorschriften, Regeln und Abfahrtszeiten, Referaten und Elternsprechtagen, Schulschwänzereien und Schlägereien im Autobus.

Es war die Freiheit um 5 Uhr morgens beim Klofenster rauszuklettern, ohne Handy, ohne Haustorschlüssel, ohne Plan einen wundervollen Tag voller unfassbar spannender Abenteuer zu verbringen um erst spätabends wieder hungrig und müde nach Hause zu kommen. Und keiner hat einen 100 mal angerufen, keiner hat sich Sorgen gemacht, ohne Helm am viel zu grossen Fahrrad des Vaters, ohne Jausenproviant oder Bio Chia Samen Müsli Bars, ohne Sonnencreme oder Zeckenimpfungen, im Kuhstall, in der Scheune, am Feld, im Wald, bei den Schweinen, in der Wiese oder in der riesengrossen Gärtnerei oder den Obstplantagen der landwirtschaftlichen Fachschule, oder mit meinen Freunden vom Silo in das meterhoch aufgetürmte Heu springend in der Hocheinfahrt zwischen Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen , Trommeln, Singen, Zirkus Spielen, oder bei den Bienen rumhängen, beim mit der Hand nach Forellen Schwarzfischen mit meinem Hund Waldi, den mir mein Opa zum Abschied von der Obersteiermark und meinem Grimming geschenkt hatte, in einem der zahllosen Bäche Richtung Himmelsstiege oder Richtung Reibersdorf, meistens barfuss und ohne 1 % Zweifel, dass dies wieder ein neuer tollster Tag im Leben des Räuberhauptmanns, des Blutsbruders Winnetou oder D’Artagnans in diesem wundervollen Leben voller täglich neuer Überraschungen, Geschenke des Himmels und unglaublicher Zufälle ist und sein wird.

Heute glaube ich ist dieses Gefühl des ersten Ferientages oft ein vollkommen anderes, da diese mir damals schier endlos scheinende wunderbare Freiheit inzwischen in Scheiben von Zeit , von Tasks und Abenteuerurlauben zerschnitten ist, mit bestens geplanten und von langer Hand vorbereiteten Ausflügen, präzise getimed, alles vorab via Internet und websites ausgecheckt, vermarktete , mit Terminen und Familienfesten, Geburtstagsfeiern und Patchwork Familienurlauben, Urlauben am Bauernhof, Onkel, Tanten, Oma und Opa Besuchen zerstückelte und durchorganisierte Freiheit, Tenniskursen, NachhilfeCamps, da noch ein Essen mit Freunden reingequetscht, dort noch ein Besuch von dieser sensationellen Freizeitanlage oder Wohlfühloase mit Kinderprogrammen, Kinderausflügen und Kindermenüs, hier noch was Trinken und dort noch mal Atmen, mit Helm, virtuellen und realen Sicherheitsgurten, mit allen möglichen und unmöglichen Allergie Gegenmitteln, Medikamenten gegen dies und das bewaffnet, und auf jeden Fall mit dem überlebensnotwendigen Handy, damit man immer und überall erreichbar ist, damit man weiss „wo man ist“ damit „ja nichts passiert“, was in Anbetracht einer derartigen, bis auf die Minute vollkommen ausgecheckten Freizeitlogistik und Urlaubsplanung und meinem immer noch Besten Freund „König Zufall“ an der Gurgel dessen Luft abschnürend wohl kaum noch möglich sein dürfte. Der König Zufall, der Umstand, dass „etwas passieren“ darf, etwas ungeplantes, unvorhergesehenes, unglaublich erfrischend Unerwartetes, dafür Platz und Raum schaffen, allen Raum der Welt – richtige Ferien eben – und sich dem stellen: das ist Leben. Und die, bei denen „ja nichts passiert“, die haben die längsten Ferien die es gibt, die sind tot und liegen am Friedhof.

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