Amnesty International gehört zu den Menschenrechtsorganisationen mit den meisten Unterstützern – über sieben Millionen weltweit sind es nach eigenen Angaben – und zweifellos auch zu denen mit dem besten Ruf. Die Vereinigung gilt als überparteilich, seriös, politisch schlagkräftig und weitgehend frei von innerorganisatorischen Kämpfen. Ihre Kampagnen werden in und von der Öffentlichkeit wahrgenommen, ihr Wort hat Gewicht. Was Amnesty als Verstoß gegen die Menschenrechte begreift und anprangert, ist für viele eine Richtschnur, was es auf die Agenda setzt, von Bedeutung.
Vor wenigen Tagen fand die Jahreskonferenz der großen britischen Sektion statt, auf der wie immer auch über diverse Resolutionsentwürfe abgestimmt wurde. Einer davon ging auf die Initiative des Mitglieds Andrew Thorpe-Apps zurück und betraf den wachsenden Antisemitismus in Großbritannien. Judenfeindliche Zwischenfälle haben dort im Jahr 2014 nach Angaben des Community Security Trust, der die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft gewährleisten soll, ein Rekordniveau erreicht: 1.168 gemeldete antisemitische Aktivitäten bedeuten eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr.
In seinem Antrag regte Thorpe-Apps deshalb an, im Vereinigten Königreich eine Kampagne gegen Antisemitismus zu organisieren und die britische Regierung aufzufordern, mehr gegen die stetig wachsende Judenfeindschaft zu unternehmen. Der Vorstand der britischen Sektion von Amnesty versprach, die Eingabe zu unterstützen. Doch auf der Konferenz wurde die Resolution abgelehnt – als einzige von insgesamt 17. Neil Durkin, der Pressesprecher von Amnesty Großbritannien, sagte: »Nach einer wirklich interessanten Debatte, in der jeder sämtliche Diskriminierungen religiöser und ethnischer Gruppen ablehnte, beschlossen die Mitglieder, dieser Resolution nicht zuzustimmen, weil in ihr nur für eine bestimmte Gruppe eine Kampagne gefordert wird.«
Eine seltsame, um nicht zu sagen befremdliche Begründung. Schließlich fanden auf der Konferenz beispielsweise die Resolutionen gegen Straflosigkeit in Guatemala, gegen die Verletzung der Rechte kolumbianischer Aktivisten und gegen die Inhaftierung von Asylsuchenden in Großbritannien jeweils eindeutige Mehrheiten. Im Jahr zuvor wurden Resolutionen zur Entkriminalisierung von Sexarbeit, zu Guantánamo und zur menschenrechtlichen Lage in Sri Lanka verabschiedet. 2012 hatte Amnesty einen Bericht zur wachsenden Islamfeindlichkeit in Europa veröffentlicht und die europäischen Regierungen zum Handeln aufgefordert, 2010 war in einem Beschluss die verbreitete Diskriminierung und Gewalt gegen Sinti und Roma verurteilt worden. Allesamt fraglos Aktivitäten für »bestimmte Gruppen«.
»Wir können leider nicht zu allem eine Kampagne machen«, ergänzte Amnesty Großbritannien nach der Abstimmung auf Twitter lapidar. Korrekter wäre wohl die Aussage gewesen: zu vielem, nur nicht zum Antisemitismus. Die Feindschaft gegen Juden ist einer an der Universität Tel Aviv veröffentlichten Studie zufolge im vergangenen Jahr zwar weltweit – und dabei nicht zuletzt auf der Insel – um satte 38 Prozent gestiegen. Aber das scheint für Amnesty kein hinreichender Grund zu sein, um aktiv zu werden. Generell tut sich die Organisation ausgesprochen schwer mit dieser Problematik, um es zurückhaltend zu formulieren.
Kristyan Benedict, der für Amnesty Großbritannien als Krisenreaktions- und Kampagnenmanager arbeitet, also eine führende Funktion innehat, pflegt sogar eine heftige, antisemitisch und verschwörungstheoretisch motivierte Ablehnung gegen Israel, die sowohl in verbalen als auch in körperlichen Angriffen mündete und bereits parlamentarische Nachforschungen ausgelöst hat. Aber auch Amnesty selbst fällt immer wieder durch einseitige Anschuldigungen gegenüber dem jüdischen Staat auf, zuletzt etwa in seinem Bericht über den Gaza-Krieg des vergangenen Sommers oder in einer Broschüre, in der wider jede Evidenz behauptet wird, Israel bringe die Palästinenser mit seiner Wasserpolitik an den Rand des Verdurstens.
Bei NGO Monitor, einer Vereinigung zur Beobachtung von Nichtregierungsorganisationen, hat man die Kampagnen und Stellungnahmen von Amnesty ausführlich analysiert und den Schluss gezogen, dass die Organisation insgesamt voreingenommen gegenüber Israel ist. Viele ihrer Funktionäre und Rechercheure hätten »eine Geschichte ausgedehnter antiisraelischer Aktivitäten«, förderten »den Narrativ von der palästinensischen Opferrolle und der israelischen Schuld« und gingen dabei sogar so weit, die universellen Menschenrechte, denen sie eigentlich verpflichtet sein müssten, zu vernachlässigen. Die Entscheidung von Amnesty Großbritannien, das Thema Antisemitismus zu ignorieren, stehe insoweit »in Einklang mit dieser unmoralischen Linie«.
Andrew Thorpe-Apps, der den Resolutionsentwurf eingebracht hatte, war denn auch enttäuscht von der Ablehnung seines Antrags. »Es war mir bewusst, dass Amnesty in der Vergangenheit oft propalästinensisch war und nicht für die jüdische Bevölkerung eingetreten ist, deshalb dachte ich, dass es eine gute Idee wäre, das zu ändern«, sagte er. Er sei selbst nicht jüdisch, aber »entsetzt über das, was ich in den Medien zur derzeitigen Situation der jüdischen Gemeinschaft gelesen habe«. Eine Organisation wie Amnesty, findet Thorpe-Apps, »sollte diesbezüglich unbedingt ihre Stimme erheben, wie sie es ja auch bei anderen menschenrechtlichen Angelegenheiten tun«. Sofern dort keine Juden als Opfer beteiligt sind, wäre zu ergänzen.
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