Mahmud Abbas, der längst schon nicht mehr demokratisch legitimierte Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, hatte bereits vor einiger Zeit angekündigt, auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York gewissermaßen eine Bombe platzen zu lassen. Was er dann gestern in seiner Rede sagte, darf man allerdings eher als Rohrkrepierer betrachten: Die Palästinenser fühlten sich nicht länger an die Oslo-Abkommen aus den Neunzigerjahren gebunden, weil diese von Israel nicht eingehalten würden, tat er kund. Das wurde in verschiedenen Medien als »Aufkündigung« dieser Vereinbarung bezeichnet, allein: Es ist, wie Khaled Abu Toameh in der »Jerusalem Post« schrieb, weder zu erwarten, dass Abbas seine Behörde auflöst, noch wird er zurücktreten. Vielmehr wird er vermutlich einfach weitermachen wie bisher, und da sich die palästinensischen Führungen nie groß um die Verträge mit dem jüdischen Staat geschert haben, ändert sich diesbezüglich ohnehin nichts.
Gleichwohl macht die Ansprache einmal mehr deutlich, wie sehr es zum palästinensischen Selbstverständnis gehört, sich als Opfer Israels zu sehen. Ein »historisches Unrecht«, sagte Abbas, sei »dem palästinensischen Volk und seiner Heimat« widerfahren, »einem Volk, das friedlich in seinem Land gelebt« und »die Menschheit mit intellektuellen, kulturellen und humanitären Beiträgen« beglückt habe. Ob er dazu auch Flugzeugentführungen, Selbstmordattentate und Raketenorgien zählt, ist nicht überliefert. Palästina sei infolge des UN-Teilungsbeschlusses von 1947 in zwei Staaten aufgeteilt worden, doch während Israel sich vor 67 Jahren gegründet habe, »wartet der zweite Teil der Resolution immer noch auf seine Umsetzung«. Dass die arabischen Staaten den Teilungsplan seinerzeit in Gänze ablehnten und den jüdischen Staat einen Tag nach dessen Gründung angriffen, unterschlug Abbas genauso wie die Tatsache, dass die Palästinenser sich in den folgenden Jahrzehnten noch den weitestgehenden Angeboten Israels verweigerten und lieber zu den Waffen griffen.
Mit der Wahrheit nicht so genau nehmen es auch die selbsternannten Anwälte der palästinensischen Sache, in Europa beispielweise, den Vereinigten Staaten oder Südafrika. Sie, die den palästinensischen Narrativnacherzählen, bedienen sich immer wieder auch einprägsamer Bilder und einer markanten Symbolik, die eine emotionale Wirkung entfalten sollen und stets die gleiche Botschaft transportieren: Die Israelis sind die Täter, die Palästinenser die Opfer. Zu diesem Bildmaterial gehört auch eine Serie von vier Karten, die veranschaulichen soll, dass der jüdische Staat sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausgedehnt und den bedauernswerten Palästinensern so fast ihr gesamtes Land genommen hat. Diese Kartenserie mit ihrer einfachen Aussage und extremen Suggestivwirkung ist seit vielen Jahren im Umlauf und wird von »Antizionisten« regelmäßig herangezogen, wenn es darum geht, die vermeintlichen expansionistischen Gelüste des jüdischen Staates aufzuzeigen und anzuprangern. Der Historiker Yaacov Lozowick hat sie sich vorgenommen, und weil seine Analyse überaus treffend ist, sei hier ein Großteil ins Deutsche übersetzt:
Fangen wir mit der Karte von 1946 an. Selbst wenn man sie einzeln betrachtet, also getrennt von der Serie, ist sie insofern irreführend, als sie zwei verschiedene Arten von Information enthält: Ihre Umrisse zeigen das von den Briten kontrollierte, gemeinhin Palästina genannte Territorium. Da es sich um die Karte einer politischen Einheit handelt, müsste das Gebiet eigentlich vollständig mit einer einzigen Farbe gefüllt sein, schließlich wurde das gesamte Land von den Briten beherrscht, die weißen Teile genauso wie die grünen. Wollte man dagegen privaten Landbesitz unter britischer Souveränität entlang ethnischer Kriterien darstellen, müsste das Grüne durch einen Mischmasch von Farben ersetzt werden: Ein Teil des Landes gehörte Juden, ein anderer jenen Arabern, die man heute Palästinenser nennen würde, ein weiterer arabischen Grundbesitzern (Libanesen, Syrern, Ägyptern etc.), die nicht auf ihrem Land lebten, wieder ein anderer europäischen Kirchen (beispielsweise der katholischen, protestantischen, griechisch-orthodoxen oder russisch-orthodoxen). Der bei weitem größte Teil des Landes aber gehörte keinem der Genannten und somit der Regierung, also den Briten.
Wenn ich es richtig sehe, wird auf der Karte das jüdische Eigentum an Grund und Boden in Jerusalem (wo es eine jüdische Mehrheit gab) übergangen; Gleiches gilt für Ortschaften wie Gusch Etzion und Neve Yaacov, für Siedlungen am Toten Meer sowie in Hebron, in Safed, in Naharia und dem Hinterland, in Kfar Darom im Gazastreifen und so weiter. Aber das Hauptproblem mit dieser Karte ist nicht, dass sie über jüdisches Eigentum an Grund und Boden hinweggeht, sondern vielmehr die implizite Behauptung, dass alles Land, welches nicht Juden gehörte, »Palästina« war. Und das stimmt nicht. Wenn hier Landbesitz dargestellt werden soll, dann müsste der größte Teil des Territoriums als der britischen Regierung gehörend abgebildet werden; geht es um politische Souveränität, dann war sogar das gesamte Gebiet britisch.
Die zweite Karte beschäftigt sich nicht mehr mit dem Thema Landbesitz, und die Serie kehrt auch nicht mehr dorthin zurück. Es handelt sich vielmehr um eine halbwegs genaue Darstellung des UN-Teilungsplans vom 29. November 1947 – mit einer eklatanten Auslassung allerdings, nämlich der Gegend um Jerusalem und Bethlehem, die eindeutig nicht einer Seite zugeordnet, sondern als corpus separatum behandelt wurde. Ich betone: Jerusalem und Bethlehem. Der Kartenzeichner hat also einem prospektiven Staat Palästina ein sehr wichtiges Stück Land zugeschlagen, das er in Wirklichkeit nie hatte.
Diese Karte bildete natürlich niemals eine Wirklichkeit ab. Zur Zeit des UN-Teilungsplans wurde sie von allen arabischen Staaten abgelehnt, die eine Stimme hatten, und darüber hinaus auch von den einheimischen Arabern, die sich seinerzeit – anders als heute – nicht durchweg Palästinenser nannten. Ich werde mich hier nicht mit der Frage beschäftigen, wer den UN-Teilungsplan durchkreuzte, aber ich glaube, man kann sagen, dass dabei alle Seiten eine Rolle spielten: der Jischuw, el-Husseinis palästinensische Truppen, al-Qawuqjis Truppen sowie die ägyptischen, jordanischen, syrischen, irakischen und libanesischen Truppen, die am Kampf um ein Territorium teilnahmen, das zuvor unter britischer Herrschaft gestanden hatte.
Die dritte Karte (1949–1967) ist auf ihre eigene Weise irreführend. Sie zeigt Israel in weiß und zwei andere Gebiete in einheitlichem Grün – dem gleichen Grün, das in den ersten beiden Karten palästinensisches Territorium markieren sollte. Natürlich stimmt das nicht mit der historischen Wirklichkeit überein: Der Gazastreifen wurde von Ägypten kontrolliert, nicht von den Palästinensern, und sollte von Rechts wegen als ägyptisch besetzt bezeichnet werden. Das größere grüne Gebiet wurde von Jordanien kontrolliert und annektiert; die Bewohner bekamen die jordanische Staatsbürgerschaft, weshalb ich nicht weiß, ob dieses Territorium, rechtlich gesehen, besetzt war oder nicht. Falls ja, dann war sein Status wahrscheinlich ähnlich wie der unter israelischer Herrschaft nach 1967: besetzt eben, mit Siedlern aus dem Besatzerstaat. Wenn es nicht besetzt war, dann war es ein Teil von Jordanien. (Das ist ja auch der Grund für den Namen »Westbank« bzw. »Westjordanland«: die westliche Hälfte von Jordanien.) Wie auch immer: Als Palästina kann man es jedenfalls nicht bezeichnen.
Bemerkenswert ist auch, dass die Karte es vermeidet, sich mit dem privaten Landbesitz zu beschäftigen – was ja das Thema der ersten Karte war. Würde sie diesen Besitz anzeigen, dann müsste an ihr deutlich werden, dass ein Teil des Gebietes innerhalb Israels natürlich Palästinensern gehörte, während kein Stückchen Land in Jordanien als in jüdischem Besitz befindlich akzeptiert wurde, auch wenn dieser Besitz mancherorts niemals in so etwas wie einem rechtsstaatlichen Verfahren aufgehoben wurde.
Kommen wir schließlich zur vierten Karte. Zum ersten Mal in dieser Serie gibt es nun so etwas wie eine palästinensische Herrschaft – im gesamten Gazastreifen und im Westjordanland. (Vernachlässigen wir kurz die Unterscheidung zwischen der Herrschaft der Hamas in Gaza und der Herrschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank.) Kaum erklärlich ist dabei die Entscheidung des Kartenzeichners, so zu tun, als ob die palästinensische Befehlsgewalt nur für die A-Zone gilt, und die größeren B-Zonen zu unterschlagen. So, wie ich die Geschichte verstehe, zeigt die Karte außerdem keinen palästinensischen Rumpfstaat, sondern im Gegenteil zum ersten Mal überhaupt das Entstehen einer neuen Entität, von und für Palästinenser. Kein verschwindendes Palästina also, sondern ein entstehendes!
Als »Piktogramm für historische Analphabeten« hat Claudio Casula diesen Kartentrick der besonderen Art in einem lesenswerten Beitrag für »Spirit of Entebbe« schon vor siebeneinhalb Jahren sehr zu Recht bezeichnet. Nun ist »Israelkritikern« selten mit Argumenten beizukommen, aber darum geht es auch gar nicht. Vielmehr wird gerade an Beispielen wie dieser Kartenserie deutlich, mit welchen ideologischen Mitteln und Methoden sie arbeiten, um den jüdischen Staat zu dämonisieren und zu delegitimieren. Und wenn ein Bild, ein Symbol, eine Ikone erst einmal den bezweckten Effekt erzielt hat, ist eine Korrektur nur schwer möglich – selbst wenn die Widersprüche und Falschheiten himmelschreiend sind.