Einer der hartnäckigsten politischen (und ökonomischen) Mythen in Deutschland ist zweifellos der vom »Wirtschaftswunder« nach dem Zweiten Weltkrieg. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wird der unerwartete ökonomische Aufschwung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gerne damit (v)erklärt, dass die Bevölkerung sich nach dem erzwungenen Ende des »Dritten Reiches«, durch das ihr Land zu großen Teilen in Trümmer gelegt worden sei, brav und fleißig an die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten gemacht und so im Schweiße ihres Angesichts »die Wirtschaft« wieder in Schwung gebracht habe, was verdientermaßen in erklecklichen Wohlstand gemündet sei. Vergessen wird dabei vor allem eines: dass dieser Wohlstand nicht zuletzt »auf der kontinuierlichen Verwertung von Profiten aus dem Nationalsozialismus« beruhte, wie Jörg Rensmann im 2003 erschienenen Buch »The Final Insult« schrieb.* »Man halluzinierte sich«, so der Politikwissenschaftler weiter, »ein ›Wirtschaftswunder‹, dessen materielle Grundlage gleichzeitig verdrängt wurde, nämlich die Profite aus ›Arisierung‹ und Zwangsarbeit«. Hinzu kommt, dass 80 bis 85 Prozent der Produktionsanlagen intakt geblieben waren und die Gesamtkapazität jene der Vorkriegszeit weiterhin übertraf. Man kann also nicht sagen, dass Vernichtungskrieg und Holocaust sich gerächt hätten, schon gar nicht in puncto Prosperität.
Zumal da noch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 war, mit dem 65 Staaten – darunter Griechenland – der Bundesrepublik einen Großteil ihrer Verbindlichkeiten erließen und so erheblich zum ökonomischen Aufstieg Westdeutschlands beitrugen. Es ging dabei um die Vorkriegslast – größtenteils nicht geleistete Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg – und um die Nachkriegsschulden, bei denen es sich vor allem um Zahlungen aus dem Marshall-Plan und um alliierte Kredite für Wirtschaftshilfe unmittelbar nach dem Krieg handelte. Trotz des Verzichts der Gläubigerstaaten auf entgangene Zinszahlungen ab 1934 ergab sich eine Gesamtschuld von rund 30 Milliarden Mark, bei einer westdeutschen Wirtschaftsleistung von 70 Milliarden Mark. »Unmöglich zu erfüllen«, befand der deutsche Verhandlungsleiter Hermann Josef Abs, der während des Nationalsozialismus im Vorstand der Deutschen Bank mit der »Arisierung« von Unternehmen und Geldinstituten, die Juden gehörten, beauftragt war. Die Gläubiger reduzierten die deutschen Auslandsverbindlichkeiten schließlich um über 50 Prozent, senkten die Zinsen massiv und streckten die Schulden bis zum Jahr 1988. Der Erlass wurde nicht von der Umsetzung von Austeritätsprogrammen abhängig gemacht, sondern sah wachstumsfördernde Maßnahmen vor. Deutschland sollte die Rückzahlungen aus seinen Exporteinnahmen decken können und nicht durch die Aufnahme neuer Schulden.
Kein Bestandteil des Londoner Abkommens waren die Reparationen für die von Deutschland besetzten Länder. Diese Zahlungen sollten nach einer deutschen Wiedervereinigung in einem Friedensvertrag geregelt werden, sie wurden also gestundet. Auch die millionenschweren Zwangskredite, die das Deutsche Reich dem besetzten Griechenland abgepresst hatte, um damit vor allem den Krieg im östlichen Mittelmeer zu finanzieren, standen nicht zur Debatte. Hagen Fleischer, Historiker an der Universität Athen, bezeichnet die deutsche Besatzung in Griechenland als »eindeutig die blutigste von allen nicht-slawischen Ländern«. In einem Beitrag des ARD-Magazins Kontraste bilanzierte er: »Weit über 30.000 exekutierte Zivilisten, darunter auch viele Frauen und Kinder. Systematisch zerstörte Infrastruktur und Wirtschaft. Plünderorgien, vom Raubbau in den Bergwerken, die für die deutsche Seite interessant war, bis hin zum Abtransport von Olivenöl und von Lebensmitteln. Und daraus resultierten die mindestens 100.000 Hungertoten vom ersten Besatzungswinter.«
Als die Mauer fiel, standen die deutschen Kriegsschulden wieder auf der Agenda. Doch die Bundesregierung wollte sich vor Reparationszahlungen unbedingt drücken. Außenminister Hans-Dietrich Genscher habe deshalb »sämtlichen Botschaften ein geheimes Rundschreiben zugeschickt, wie man die jetzt vermutlich aufkommenden Entschädigungsansprüche abwimmeln sollte«, sagt Historiker Fleischer. In diesem Schreiben hieß es unter anderem: »Kommt es nicht zu Verhandlungen über einen formellen Friedensvertrag, so könnten wir darlegen, dass sich […] keine Notwendigkeit ergibt, die Frage der Reparationen aufzugreifen.« Also gab es offiziell keinen Friedens-, sondern einen »Zwei-plus-Vier-Vertrag« zwischen der Bundesrepublik, der DDR und den großen Siegermächten, in dem kein Wort über Entschädigungen und Zwangskredite verloren wurde. Griechenland durfte nicht mitreden und war darüber begreiflicherweise alles andere als begeistert. In einer diplomatischen Note forderte die griechische Regierung deshalb im Jahr 1995 Verhandlungen über die Rückzahlung der Zwangsanleihe, wurde aber mit den Worten abgekanzelt, »nach Ablauf von 50 Jahren nach Kriegsende« habe »die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren«. Heute sagt Vizekanzler Sigmar Gabriel: »Wir haben eine klare rechtliche Antwort auf solche Forderungen, nämlich, dass die spätestens mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und den Ergebnissen alle diese Themen rechtlich beendet worden sind.«
Jetzt, wo die »Wiedergutwerdung der Deutschen« (Eike Geisel) abgeschlossen und die Geschichte zur Strecke gebracht worden ist, tönt es wieder laut und gnadenlos in Richtung der Griechen. Faul, frech und fordernd seien sie, hört und liest man allenthalben, auf »unser« sauer verdientes Geld hätten diese Pleitiers es abgesehen, und die hierzulande qua Selbstläuterung vorbildlich bewältigte Vergangenheit wollten sie auch nicht ruhen lassen. Der Boulevard fordert die »Eiserne Kanzlerin«, während ARD und ZDF die Frage stellen, ob der Grieche überhaupt wusste, worüber er da beim Referendum am Sonntag abgestimmt hat. Die Großkotzigkeit und Überheblichkeit, der völlige Mangel an Empathie und das absichtsvolle Beschweigen derjenigen politischen und ökonomischen Krisengründe, die von Deutschland und der EU zu verantworten sind und nicht von Griechenland, stehen dabei hinsichtlich ihrer Widerwärtigkeit in harter Konkurrenz zu einer Geschichtsvergessenheit, die Ihresgleichen sucht. Nur allzu berechtigt ist es deshalb, dass sich die Griechen in aller Form gegen die nassforschen Töne aus einem Land verwahren, dessen Wiederaufstieg auch auf ungesühnten Verbrechen an der griechischen Bevölkerung, eiskalten Zahlungsverweigerungen gegenüber Griechenland und großzügigen Schuldenerlassen basiert. Und wer sich über Tsipras und Varoufakis ereifert, aber über Abs nicht (mehr) reden will, möge ohnehin am besten ganz schweigen.
* Jörg Rensmann: Anmerkungen zur Geschichte der deutschen Nichtentschädigung, in: gruppe offene rechnungen (Hg.): The Final Insult. Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, Münster 2003, S. 45-70 (S. 55).