Berlin, im Juli 2014: »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein«, brüllt eine aufgeputschte Menge mehrfach auf einer antiisraelischen Kundgebung. Die Polizei steht daneben – und lässt den antisemitischen Mob gewähren. Berlin, im April 2015: Fans des FC Ingolstadt hängen vor dem Zweitligaspiel ihres Lieblingsklubs bei Union Berlin eine israelische Flagge an den Zaun des Stadions, um auf diese Weise den israelischen Spieler Almog Cohen zu unterstützen. Ein Ordner lässt die Fahne auf Anweisung der Polizei entfernen. Zur »Gefahrenabwehr«, wie es heißt. Mit anderen Worten: Wer judenfeindliche Parolen ruft, dem tut die Staatsmacht nichts. Wer aber eine Fahne des jüdischen Staates zeigt, muss damit rechnen, für gefährlich gehalten und behelligt zu werden.
Einzelfälle sind das nicht. Antisemitische Losungen wurden, zuletzt während des Gazakrieges im vergangenen Sommer, auch in anderen deutschen Städten gegrölt, ohne dass die Polizei dagegen vorgegangen wäre. Dass Fahnen des Staates Israel von den Ordnungshütern einkassiert werden, ist ebenfalls kein Novum. Der wohl bekannteste Fall dieser Art trug sich im Januar 2009 in Duisburg zu, als Beamte die Wohnung eines Mannes stürmten und eine israelische Flagge konfiszierten, die dieser aus Protest gegen eine vorbeiziehende antiisraelische Demonstration in sein Fenster gehängt hatte. Doch auch andernorts beschlagnahmten Polizisten das blau-weiße Banner mit dem Davidstern, im März 2011 nahmen sie in Berlin sogar zwei Menschen fest, als diese damit gegen eine Kundgebung für den Boykott Israels demonstrierten.
Worin soll nun die Gefahr bestanden haben, derentwegen sich der Einsatzleiter der Polizei im Berliner Stadion An der Alten Försterei zu seinem Vorgehen bemüßigt fühlte? »Er hielt das Zeigen der Flagge für ein politisches Statement, das er bei einer Sportveranstaltung untersagen wollte«, erklärte die Polizei. Außerdem befürchtete der Beamte, dass die palästinensische Community wegen der Fahne erbost sein könnte. Ein Argument, das gleich in mehrfacher Hinsicht abwegig ist: Zum einen kann die Gemütsverfassung dieser Gemeinschaft ganz sicher kein Grund dafür sein, das Zeigen der Fahne des jüdischen Staates zu verbieten, zum anderen dürfte sich die Zahl der Palästinenser im Stadion von Union Berlin nach allem, was man weiß, ohnehin in überschaubaren Grenzen halten.
Vor allem aber hätte man die Flaggenbesitzer unbedingt zu schützen, statt sie zu zwingen, ihre Fahne einzuholen, weil andernfalls Gefahr im Verzug sei. Doch zu diesem Schutz ist die Polizei offenbar entweder nicht willens oder nicht in der Lage. Immer mehr jüdische Einrichtungen gehen deshalb dazu über, ihn auf eigene Rechnung von ehemaligen israelischen Soldaten und Elitekämpfern gewährleisten zu lassen. Mehrere hundert dieser früheren Militärs sollen in Deutschland damit beschäftigt sein, viele tausend sind es in ganz Europa. »Wenn Europas Staaten die Juden, die auf ihrem Territorium leben, nicht schützen, wird Israel das tun«, sagte der israelische Parlamentarier Israel Hasson im Sommer des vergangenen Jahres.
Wenn man dann bedenkt, dass in Berlin am Tag vor dem Spiel eine große Konferenz von Hamas-Sympathisanten stattfinden konnte, mutet das Agieren der Polizei noch befremdlicher an: Die Feinde des jüdischen Staates konnten unter Polizeischutz ihre antisemitischen Fantasien ausleben, während die Staatsmacht im Stadion nicht mal eine einzelne israelische Fahne duldete. Inzwischen hat der Berliner Polizeipräsident Klaus Klandt zwar das Vorgehen seiner Untergebenen als Fehler bezeichnet und um Entschuldigung gebeten. Doch angesichts der Tatsache, dass ein derartiger Vorgang nicht zum ersten Mal passiert ist, muss man bezweifeln, dass diese Einsicht von Dauer sein wird.
Beim FC Ingolstadt war man derweil not amusedüber den Einsatzleiter. Der Pressesprecher des derzeitigen Zweitliga-Tabellenführers, Oliver Samwald, sagte: »Wir hatten kein Verständnis für die Entscheidung der Berliner Polizei. Um die Situation aber nicht eskalieren zu lassen, haben wir der Anordnungen Folge geleistet.« Die Entschuldigung des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Klandt nehme man an. Samwald ergänzte: »Wir bedauern, dass unser Spieler Almog Cohen beim Spiel am Sonntag in Berlin so etwas erleben musste. Wir gehen davon aus, dass sich ein solcher Vorfall nicht mehr wiederholt.«
Union Berlin verwies darauf, kein Problem mit der Fahne gehabt zu haben. »Aber wir würden uns mit unserem Hausrecht nie über eine polizeiliche Anweisung zur Gefahrenabwehr hinwegsetzen«, sagte der Klubsprecher Christian Arbeit. Die Erklärung des Polizeipräsidenten begrüßte der Verein. Zu klären blieb allerdings noch das Verhalten des Ordners beim Abhängen der Fahne. »Keine Flaggen von Juden erlaubt«, hatte er nach Angaben von Almog Cohen geäußert. Via Twitter machte der Klub dafür ein sprachliches Missverständnis verantwortlich: Der Ordner habe nicht gewusst, was das Adjektiv »israelisch« auf Englisch heißt. Wie man »jüdisch« übersetzt, war ihm dagegen ganz offensichtlich bekannt. Honi soit qui mal y pense.