Eine kleine Preisfrage zu Beginn: Wie viele Sondersitzungen zum Thema Antisemitismus hat die UN-Generalversammlung in der fast 70-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen bislang durchgeführt? Unzählige, sollte man angesichts der ständigen Aktualität und traurigen Virulenz dieses Themas meinen. Es hat aber nur eine einzige gegeben – nämlich am vergangenen Donnerstag. Richtig gelesen: Sage und schreibe sieben Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich die Uno dazu durchgerungen hat, den Judenhass in einer eigenen Sitzung zu thematisieren. Nun könnte man sagen: Besser spät als nie. Und mit dem französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy hatte man auch einen formidablen Hauptredner gewinnen können. Nur hörte ihm kaum jemand zu. Es ist gewissermaßen Nebensaison bei der Uno, entsprechend dünn waren die Reihen des Plenums am East River in New York besetzt. Und unter den rund 60 Wortbeiträgen war kein einziger eines Staatschefs. Kein Wunder: Das Führungspersonal der UN-Mitgliedsländer glänzte durch Abwesenheit und entsandte allenfalls Vertreter.
Ganz so wichtig scheint die sogenannte Staatengemeinschaft das Problem also nicht zu finden. Das erstaunt jedoch wenig, wenn man weiß, dass sich die Vereinten Nationen erheblich lieber mit vermeintlichen Verbrechen vonJuden beschäftigen als mit Verbrechen an ihnen. So hat die Generalversammlung in ihrer gegenwärtigen Sitzungsperiode nicht weniger als 20 Resolutionen verabschiedet, in denen Israel kritisiert oder verurteilt wird – und gerade einmal drei, die sich gegen andere Länder richten, namentlich gegen Syrien, Nordkorea und den Iran. Dabei ist es durchaus nicht so, dass der jüdische Staat sich in der jüngeren Vergangenheit besonders schwerer Vergehen schuldig gemacht hätte – das Zahlenverhältnis bei den Uno-Resolutionen sieht vielmehr immer so aus. Nicht zuletzt deshalb hat UN Watch– eine Nichtregierungsorganisation, die sich eingehend damit beschäftigt, was die Uno so tut und lässt – anlässlich der Sondersitzung zum Antisemitismus auch gefordert, die Vereinten Nationen mögen, bitteschön, zuallererst einmal vor der eigenen Haustür kehren.
Ins gleiche Horn hatte Israels UN-Botschafter Ron Prosor bereits Ende November 2014 gestoßen, als die Generalversammlung – wie jedes Jahr – über die „Palästinafrage“ diskutierte. „Der unnachgiebige Fokus der Weltöffentlichkeit auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ist ungerecht gegenüber den mehr als zehn Millionen Opfern von Tyrannei und Terrorismus im Nahen Osten“, sagte Prosor damals. „Während wir hier reden, werden Jesiden, Bahai, Kurden, Christen und Muslime exekutiert und vertrieben von radikalen Extremisten [...]. Wie viele Resolutionen haben Sie letzte Woche verabschiedet, die sich mit dieser Krise beschäftigten? Und wie viele Sondersitzungen haben Sie einberufen? Die Antwort ist: null. Was sagt dies über das internationale Interesse am Leben der Menschen? Nicht viel, aber es spricht Bände über die Heuchelei der internationalen Gemeinschaft.“
Hinzu komme ein weiterer Punkt, so Prosor: „Die schlimmste Unterdrückung der Palästinenser gibt es in den arabischen Ländern. Im überwiegenden Teil der arabischen Welt wird Palästinensern die Staatsangehörigkeit vorenthalten, werden sie auf aggressive Weise diskriminiert.“ Es werde ihnen verwehrt, Land zu besitzen oder bestimmte Berufe zu ergreifen. Und dennoch werde nicht ein einziges dieser Verbrechen in den vorliegenden Resolutionen erwähnt. „Wenn es Ihnen um die Misere des palästinensischen Volkes ginge“, rief der Botschafter aus, „dann gäbe es wenigstens eine einzige Resolution zur Tötung von Tausenden von Palästinensern in Syrien. Und wenn Ihnen die Palästinenser so am Herzen lägen, dann gäbe es wenigstens eine Resolution, die die Behandlung der Palästinenser in den libanesischen Flüchtlingscamps verurteilte.“ Aber es gebe keine. Der Grund dafür sei, dass es in der Debatte der Generalversammlung nicht darum gehe, über den Frieden oder die Palästinenser zu sprechen, sondern darum, gegen Israel zu Felde zu ziehen. „Dies ist“, befand Prosor, „nichts anderes als ein Hass- und Bashing-Festival gegen Israel“.
In ein solches „Festival“ wollten auch rund 40 Aktivisten eine Sitzung des New Yorker Stadtrates verwandeln, die fast zeitgleich nur wenige Meilen von der UN-Generalversammlung entfernt stattfand. Die Mitglieder des N.Y. City Council stimmten gerade über eine Resolution zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ab, als die Aktivisten auf den Besucherrängen eine palästinensische Fahne entrollten, mit lautstarken Zwischenrufen störten und die Ratssprecherin beschimpften. Nach Angaben der Gruppe richtete sich der Auftritt gegen die für Februar geplante Reise einer Ratsdelegation nach Israel. Die Störer wurden nach einigen Minuten aus dem Saal geführt.
Anschließend ergriff das Ratsmitglied David Greenfield von den Demokraten spontan das Wort. „Ich zittere am ganzen Leib. Ich bin wütend. Ich sage aber auch frei heraus: Ich bin froh darüber, was wir hier heute zu sehen bekommen haben“, sagte er in seiner so emotionalen wie bemerkenswerten Rede. „Während wir über eine Resolution gesprochen haben, die sich mit den Morden an 1,1 Millionen Menschen in Auschwitz-Birkenau beschäftigt [...], besaßen diese Leute die Frechheit, die Chuzpe, die Verwegenheit, die Flagge Palästinas zu entfalten und uns anzubrüllen, während wir über Auschwitz sprachen!“ Angesichts dieser Störung solle man „damit aufhören, so zu tun, als ginge es hier nur um Israel“. Es handle sich vielmehr um „nackten, blinden Judenhass“.
„Die Leute, die hier gebrüllt haben, sind nur aus einem Grund so sauer“, fuhr Greenfield fort. „Wollen Sie den Grund hören? Wollen Sie wissen, warum sie da oben die Flagge entrollt haben? Ich sage es Ihnen! Weil Hitler seinen Job nicht zu Ende gemacht hat. Er hat nur eine Hälfte meiner Familie vernichtet! Nur durch die Gnade Gottes ist die andere Hälfte der Familie, ich, der Enkel, heute unter den Lebenden. Deshalb sind die Leute dort oben sauer! Schande über sie! Schande über sie, weil sie Juden hassen! Schande über sie, weil sie Menschen hassen.“ Doch man werde sich, so Greenfield, „nicht mehr einschüchtern lassen von der Furcht und dem Hass, der eher den Tod von Juden feiert, als um den Tod Unschuldiger zu trauern“.
Die „Mutter allen Hasses“ und eine „moralische Atombombe“ nannte Bernard-Henri Lévy vor der UN-Generalversammlung den Antisemitismus sehr zu Recht. Es sei deshalb die „heilige Pflicht“ der Uno, dafür zu sorgen, „dass dieser schreckliche Geist nicht wieder erwacht“. Hier irrt der Philosoph allerdings doppelt: Der Geist hat nie geschlafen. Und die Uno ist weit eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung.