Wer in Deutschland die Fahne des jüdischen Staates zeigt, setzt damit seine seelische, bisweilen sogar seine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel. Außerdem riskiert er Ärger mit der Polizei und manchmal sogar mit den Gerichten. Eine kleine Bestandsaufnahme.
Was passiert eigentlich, wenn man während der Europameisterschaft mit einer Israelfahne auf eine deutsche »Fanmeile« geht? Wie reagiert das dortige Fußballpartypublikum? Freudig, desinteressiert, feindselig? Zwei Journalisten des »Tagesspiegel«, Johannes C. Bockenheimer und Sebastian Leber, wollten es wissen und unternahmen mitten in Berlin am Brandenburger Tor anlässlich des letzten Vorrundenspiels der deutschen Nationalmannschaft gegen Nordirland einen Selbstversuch. Nun ließe sich einwenden, Israel habe sich doch gar nicht für das Turnier in Frankreich qualifiziert, weshalb das Experiment etwas arg gewollt und aufgesetzt sei. Doch auf »Public Viewing«-Veranstaltungen wie in der deutschen Hauptstadt sieht man stets massenhaft Flaggen von Ländern, deren Auswahlmannschaften nicht mitspielen – argentinische und brasilianische beispielsweise waren es in diesem Fall. Schon deshalb bedarf ein derartiges Unterfangen keiner besonderen Rechtfertigung.
Was die Journalisten erlebten, war teilweise heftig, bisweilen sogar erschütternd. Zwar gab es auch neugierige und freundliche Reaktionen, etwa von einem Flüchtling aus dem Irak, der von der jüdischen Gemeinde in Mossul erzählte, einer Stadt, in der das Terrorregime des »Islamische Staates« herrscht. Andere Besucher der »Fanmeile« aber gingen Bockenheimer und Leber aggressiv an – manche »nur« verbal, einige allerdings auch körperlich. »Was soll die Scheißfahne hier?«, bekamen sie etwa von einem Mann in einem Deutschlandtrikot zu hören; ein anderer rief: »Free Palestine!« Ein Ordner in signalfarbener Weste sagte: »Du Jude!« Ein 19-jähriger Schüler, nach eigenen Angaben »eher links«, meinte: »Wir wissen doch, welche Verbrechen die Israelis an den Palästinensern begehen.« Außerdem sei ein jüdischer Staat »scheiße«, denn das Judentum sei »eine Religion und kein Volk«. Eine 21-jährige Krankenschwester fragte: »Ist das nicht die Judenflagge?«, um sogleich zu ergänzen: »Ich bin kein Nazi, aber wir sind hier in Deutschland, und jeder, der auf die Fanmeile geht, sollte für Deutschland sein.«
Nach dem Abpfiff des Deutschlandspiels bekamen es Bockenheimer und Leber schließlich noch mit rund 15 jungen arabischen Männern zu tun, die es nicht bei ablehnenden Worten beließen. Den Journalisten zufolge bauten sie sich zunächst im Halbkreis auf. »Ein durchtrainierter Mann mit stechend blauen Augen scheint der Anführer zu sein. Er spricht sehr aggressiv. ›Was wollt ihr hier, ihr Hurensöhne?‹, fragt er. Man solle bloß schnell verschwinden. Ein anderer beginnt zu rempeln, setzt einen harten Stoß in den Rücken. Dann spucken sie. Von allen Seiten. Auf die Flagge, auf die Kleidung, mehrfach ins Gesicht. Keiner der Umstehenden schreitet ein. Folgen gleich die ersten Schläge? Wir wollen es nicht so weit kommen lassen und flüchten. Sie spucken uns hinterher und drohen. Wir laufen Richtung Holocaust-Mahnmal, dort steht die Polizei. Hätte man ja ahnen können, sagt ein Passant, der alles beobachtet hat. Dass so ein Versuch nicht gut ausgehe, habe er gleich gewusst. Der Mann sagt: ›Mit dieser Fahne habt ihr hier einfach die Arschkarte gezogen.‹«
Der Ärger kommt aus allen Milieus
Sieht man von der kaltblütig-gleichgültigen, zynisch-routinierten Attitüde ab, dann hat der Passant sogar Recht – und das weit über die Berliner »Fanmeile« hinaus. Wer sich in Deutschland mit der Fahne des jüdischen Staates in der Öffentlichkeit zeigt, läuft Gefahr, handfesten Ärger zu bekommen. Dieser Ärger ist nicht auf ein bestimmtes Milieu oder politisches Lager beschränkt, er kommt von links, von rechts, aus der Mitte, von arabisch-islamischer Seite – im antisemitischen Hass auf Israel und seine Symbole verschwimmen die politischen Grenzen bis zur Unkenntlichkeit. Einigen Aktivisten beispielsweise, die Ende des vorvergangenen Jahres in Dresden herausfinden wollten, wie eine »Pegida«-Demonstration auf die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern reagiert, schlug ähnliche Ablehnung entgegen wie den Journalisten in Berlin: »Verpisst euch«, »Die Flagge sollte man anzünden«, »Israel sind die größten Verbrecher«, »Wir wollen euch hier nicht« und andere Tiraden prasselten auf sie hernieder. Am Ende stand der Verweis von der Demo.
Besonders gefährlich ist es, auf Protestkundgebungen gegen antisemitische, israelfeindliche Aufmärsche buchstäblich Flagge zu zeigen. Im Sommer 2014 etwa – als sich die israelische Armee wieder einmal gegen die Raketenangriffe gegen den Gazastreifen zur Wehr setzen musste und es nicht nur in Deutschland zu zahlreichen antiisraelischen Demonstrationen kam – griffen in Hannover mehrere Männer eine Gruppe von Gegendemonstranten, die eine Israelfahne gezeigt hatten, körperlich an. Auch in Göttingen kam es zu Attacken auf eine proisraelische Kundgebung, bei der Israelfahnen zu sehen waren; mindestens ein Teilnehmer wurde dabei verletzt. Es waren längst nicht die einzigen gewalttätigen Vorfälle. Insbesondere islamistische Demonstranten leben, wenn sie nicht von der Polizei davon abgehalten werden, ihren antisemitischen Furor gerne auch physisch aus und kennen dabei wenig Hemmungen.
Die Polizei kapituliert vor dem Mob
Apropos Polizei: Sie ist oft genug ein gewichtiger Teil des Problems. Eigentlich sollte man ganz selbstverständlich davon ausgehen können, dass sie das Zeigen der Fahne des jüdischen Staates in Deutschland nach Kräften schützt. Doch weit gefehlt. Vor 75 Jahren führte hierzulande eine Polizeiverordnung dazu, dass bestimmte, mit deutscher Gründlichkeit ausgesuchte Menschen in der Öffentlichkeit einen Davidstern tragen mussten. Heute hinwiederum kann es passieren, dass die uniformierte Staatsmacht einen so öffentlich wie freiwillig gezeigten Davidstern zwangsweise entfernt – zur »Gefahrenabwehr« nämlich. Als beispielsweise im Januar 2009, während der gegen die Hamas gerichteten israelischen »Operation Cast Lead«, eine von Islamisten organisierte Demonstration durch Duisburg lief und angesichts zweier Israelfahnen, die im Fenster einer Wohnung im dritten Stock hingen, in Lynchstimmung geriet, stürmte die Polizei kurzerhand das Haus und riss die Fahnen unter dem Gejohle der antiisraelischen Demonstranten herunter.
Der Mieter der Wohnung hielt sich währenddessen auf der Straße auf, um die Demonstration zu beobachten und etwaige Hetzparolen dokumentieren zu können. Tatenlos musste er nicht nur mit ansehen, wie die Beamten gegenüber dem Mob kapitulierten, sondern auch, wie immer wieder Eisbrocken, Taschenmesser und andere Dinge gegen seine Fenster geworfen wurden, ohne dass die Polizei dagegen einschritt. Weil der Bewohner fürchtete, seine Wohnung nicht unbehelligt betreten zu können, entschloss er sich, er für zwei Stunden das Weite zu suchen. Als er zurückkehrte, standen immer noch Jugendliche vor seiner Haustür und warfen Gegenstände. Erst nach dem Abzug der Israelhasser konnte er sein Zuhause betreten, doch als kurze Zeit später ein Bekannter von ihm zum Rauchen auf den Balkon ging, wurde er sofort als »Scheißjude« beschimpft. Die Polizei handelte schließlich – und erteilte dem Mieter einen Platzverweis für seine eigenen vier Wände. Das Vorgehen der Ordnungshüter sorgte seinerzeit für viel Kritik, auch der nordrhein-westfälische Landtag befasste sich damit.
Etwas mehr als zwei Jahre später, im März 2011, protestierten zwei Personen vor dem Berliner Hauptbahnhof gegen eine Ausstellung, die zum Boykott Israels aufrief. Dieser Protest bestand lediglich im stummen Zeigen der israelischen Flagge – doch bereits das genügte einigen antiisraelischen Demonstranten, um auf die beiden loszugehen. Die Polizei schritt ein. »Allerdings verteidigte sie nicht etwa das Recht der zwei Personen, die Fahne eines demokratischen Landes friedlich hochzuhalten«, wie der Schauspieler und Autor Gerd Buurmann auf seinem Blog schrieb, »sondern sie kassierte die Fahne Israels und nahm die beiden Personen in Gewahrsam«. Auch hier lautete die Begründung: »Gefahrenabwehr«. Aber »dürfen zwei Menschen, die die Fahne eines Landes hochhalten, schon als Störung der Sicherheit angesehen werden?«, fragte Buurmann zu Recht. »Sie störten zwar unzweifelhaft die israelhassenden Demonstranten, aber soll man diese Subjekte wirklich zum Maßstab für Bürgerrechte nehmen?«
Gefahr im Verzug? Weg mit der Israelfahne!
Noch befremdlicher mutet das Vorgehen der Berliner Polizei im Zuge des Zweitligaspiels zwischen Union Berlin und dem FC Ingolstadt im April 2015 an. Gästefans hatten im Stadion An der Alten Försterei eine israelische Flagge am Zaun befestigt, um auf diese Weise den israelischen Spieler Almog Cohen zu unterstützen. Ein Ordner ließ die Fahne auf Anweisung der Polizei jedoch entfernen – und wiederum hieß es, dies geschehe zur »Gefahrenabwehr«. Der polizeiliche Einsatzleiter nämlich hielt »das Zeigen der Flagge für ein politisches Statement«, das er »bei einer Sportveranstaltung untersagen wollte«. Das sei die »Berliner Linie« bei solchen Großereignissen, hatte der Beamte vor dem Spiel zu Vertretern beider Klubs gesagt. Er führte außerdem als Argument ins Feld, die große palästinensische Gemeinschaft in Berlin könnte erbost über eine israelische Fahne im Stadion sein. Offenbar sah er hierin die Gefahr, die abgewehrt werden musste, indem die Flagge entfernt wird.
Ein Argument, das gleich in mehrfacher Hinsicht abwegig war und ist: Zum einen kann die Gemütsverfassung dieser Gemeinschaft ganz sicher kein Grund dafür sein, das Zeigen der Fahne des jüdischen Staates zu verbieten. Zum anderen dürfte sich die Zahl der Palästinenser im Stadion von Union Berlin nach allem, was man weiß, ohnehin in überschaubaren Grenzen gehalten haben. Vor allem aber hätte man die Flaggenbesitzer unbedingt zu schützen, statt sie zu zwingen, ihre Fahne einzuholen, weil andernfalls Gefahr im Verzug sei. Doch zu diesem Schutz ist die Polizei offenbar entweder nicht willens oder nicht in der Lage. Immer mehr jüdische Einrichtungen gehen deshalb dazu über, ihn auf eigene Rechnung von ehemaligen israelischen Soldaten und Elitekämpfern gewährleisten zu lassen.
Bisweilen bezahlt man das Zeigen einer Israelfahne übrigens nicht nur mit seiner seelischen und körperlichen Unversehrtheit, sondern auch mit barem Geld. So wie eine Bochumer Studentin, die im September 2009 zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt wurde, weil sie die Teilnehmer einer antiisraelischen Demonstration durch die Präsentaton des blau-weißen Banners mit dem Davidstern »provoziert«, eine »gefährliche Situation« geschaffen und gegen das Versammlungsgesetz verstoßen haben soll. Nur selten führen solche Ereignisse zu Kritik, noch seltener zu einer Bitte um Entschuldigung. Und selbst wenn, kann man doch die Uhr danach stellen, wann sich die entsprechende Ungeheuerlichkeit das nächste Mal zuträgt. Denn eine Selbstverständlichkeit ist in Deutschland nicht etwa das Zeigen der Fahne des jüdischen Staates, sondern vielmehr die Gefahr, die man sich damit einhandelt.