Die Diskussionen über die sexualisierten Angriffe in der Kölner Silvesternacht sind stark polarisiert und emotionalisiert. Stimmen der Vernunft haben es schwer, aber es gibt sie. Eine kleine Bestandsaufnahme.
Nach den Terroranschlägen am 13. November des vergangenen Jahres in Paris bat mich die Wochenzeitung »Jungle World«, einen Beitrag zu den Reaktionen auf die Angriffe zu verfassen. Angesichts der ungeheuren Fülle an Äußerungen war das eine komplizierte Aufgabe, dennoch hatte ich den Eindruck, in der Diskussion vor allem bekannte Muster zu entdecken. »Eigene Befindlichkeiten sind wichtiger als das Mitgefühl mit den Opfern«, schrieb ich, und: »Unerschütterlich scheinen die Gewissheiten, die in der Verarbeitung solcher Geschehnisse geäußert und als Einschätzungen präsentiert werden. Das ist zunächst einmal verständlich, denn wo das Innehalten, Nachdenken und Zweifeln keine Optionen sind, weil der Drang, etwas derart Ungeheuerliches möglichst schnell zu erklären, einzuordnen und emotional zu bewältigen, zu groß ist, hält man sich bevorzugt an vertraute Erklärungs-, Deutungs- und Reaktionsmuster. Diese wiederum verraten viel über Haltungen, Befindlichkeiten und Prioritäten – zumal angesichts der Möglichkeit, sich in den sozialen Netzwerken mitzuteilen, wo die Verlockung, rasant zu reagieren und dafür mit ›Likes‹ überhäuft zu werden, häufig erheblich größer ist als die Einsicht in die Notwendigkeit von Reflexion.«
Ein ähnliches Urteil scheint mir auch jetzt, im Lichte der gewalttätigen Angriffe am Silvesterabend in Köln und anderen deutschen Städten sowie der Diskussion über die Konsequenzen daraus, angemessen zu sein. Zwar hat es sich bei den sexualisierten Attacken nicht um Terroranschläge gehandelt, »aber der Effekt ist derselbe«, wie es Thomas von der Osten-Sacken in einem klugen Interview der »Wiener Zeitung« formuliert hat. Die gesellschaftliche Debatte ist stark polarisiert, die Bescheidwisserei dabei eminent groß. »Die Deutschen haben ein kollektives Problem«, sagt Osten-Sacken, »es fehlt die Mitte, ein Common Sense, der in der Lage ist, Widersprüche wahrzunehmen«. Das gehe den öffentlichen Diskussionen völlig ab, vor allem bei den existenziellen Fragen Sexualität, Krieg und Frieden. »Dann wird die Debatte in Deutschland immer unglaublich hysterisch, gesinnungsethisch. Die Auseinandersetzung mit Fakten und Widersprüchen ist nicht sehr ausgeprägt.«
Der Ton wird hasserfüllter, hemmungsloser und inhumaner
Das gilt zunächst einmal für diejenigen, die nachgerade darauf gewartet zu haben scheinen, dass so etwas wie in Köln geschieht, weil sie es als befriedigende Bestätigung dessen begreifen, was sie ohnehin schon immer gewusst zu haben glauben: dass das mit den vielen Flüchtlingen und den ganzen anderen »Südländern« einfach nicht gut gehen kann. Man tut diesen Leuten gewiss nicht Unrecht, wenn man feststellt, dass sie, um es zurückhaltend zu formulieren, ein grundsätzliches Problem damit haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und eine Vielzahl von Asylsuchenden aufnimmt. Und dass sie deshalb auch nicht das Geringste dafür tun wollen, um zur Bewältigung der unvermeidlichen Probleme, Schwierigkeiten und Konflikte beizutragen, die aus der Immigration erwachsen – im Gegenteil. Ihre Empörung darüber, was in Köln passiert ist, speist sich nicht aus einer Empathie gegenüber den Opfern (was sich schon daran zeigt, dass sie sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht die Bohne interessiert, wenn die Täter autochthone Landsleute sind). Sie resultiert auch nicht aus der Verwerflichkeit der Tat, sondern aus der Herkunft der Täter.
In den sozialen Medien, den Netzwerken, Foren und Kommentarspalten, aber auch auf Demonstrationen wird der Ton, der von diesem Spektrum angeschlagen wird, immer hemmungsloser, immer hasserfüllter, immer inhumaner. Er richtet sich gegen Migranten, gegen das politische Führungspersonal, gegen die Medien, gegen politisch Andersdenkende. Der »Generalverdacht«, vor dem Politik und Medien gerne warnen, ist hier längst zum Generalurteil geworden. In der FAZ hat Oliver Georgi zahlreiche Belege dafür zusammengetragen, auf Fisch+Fleisch hat Susannah Winter es getan. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Gewaltfantasien und Verschwörungstheorien sind Legion auf den einschlägigen Seiten. In Köln löste die Polizei unlängst eine »Pegida«-Demonstration nach Ausschreitungen, bei denen Menschen verletzt wurden, schon nach wenigen Metern auf, in Leipzig rief die »Pegida«-Wortführerin Tatjana Festerling unverblümt zur Gewalt auf, als sie sagte: »Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.« Rechtsradikale Hooligans zogen derweil eine Schneise der Verwüstung durch den links geprägten Leipziger Stadtteil Connewitz.
Man muss an dieser Stelle auch noch einmal nachdrücklich daran erinnern, dass die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte dramatisch gestiegen ist. Das Bundeskriminalamt hat diesbezüglich im vergangenen Jahr sage und schreibe 887 Straftaten registriert, von Hakenkreuz-Schmierereien bis zu Brandanschlägen. Ein Rechercheteam der »Zeit« ging 222 gewaltsamen Angriffen auf Flüchtlingsheime nach, die sich zwischen Januar und November 2015 ereignet hatten. Darunter waren 93 Brandanschläge, wovon sich etwa die Hälfte gegen bewohnte Unterkünfte richtete. »Es ist ein glücklicher Zufall, dass bisher kein Flüchtling getötet wurde«, hielten die Autoren fest. Seit den Kölner Angriffen gründen sich zunehmend »Bürgerwehren«, die exerzieren wollen, was sie für rechtens halten. Die Zahl der Anträge auf einen Waffenschein nimmt zu. Der zivilisatorische Firnis ist dünn, der Ruf nach autoritären, drakonischen, extralegalen Maßnahmen beängstigend laut.
Rassismus des Antirassismus
Auf der anderen Seite greifen die linken, linksliberalen und feministischen Kräfte der Republik ihrerseits zu den gewohnten und vertrauten Erklärungsmustern. In der – berechtigten – Kritik und Abwehr rassistischer Stereotype in der Debatte über die Taten von Köln lassen sie oftmals die spezifischen Hintergründe der Angriffe und ihre besondere Dimension untergehen; durch Vergleiche – etwa mit dem Oktoberfest oder dem Karneval – wird de facto eine Relativierung vorgenommen. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht der »#ausnahmslos«-Aufruf von 22 Feministinnen, den Thierry Chervel im »Perlentaucher« einer brillanten Kritik unterzogen hat. Der Appell offenbare »den innersten Widerspruch jener Post- und Gender-Diskurse, die noch die letzte Differenz zur ›Kultur‹ erheben, die zu respektieren wäre, und die zugleich den Namen bestimmter Differenzen nicht aussprechen wollen«. Die Kölner Geschehnisse seien für die Autorinnen »nur ein Detail in einem Riesenpanorama der Unterdrückung« von Frauen und die Hintergründe der Täter daher nicht weiter erwähnenswert.
»Es ist die Krux von Post- und Genderdiskursen, dass sie einerseits noch die speziellsten Identitätsformen zur ›Kultur‹ sanktuarisieren, die stets von einem ›Safe Space‹ des ›Respekts‹ zu umgeben sei, dass sie aber andererseits die Wirkkraft von Kulturen leugnen, sobald diese gegen das Allgemeine ausschlagen«, schreibt Chervel weiter. »Dass die jungen Nordafrikaner die Frauen in der Weise belästigt haben, wie sie es taten, ist für die Autorinnen alles andere als kulturell geprägt – hier gilt auf einmal das soziale Argument. Nicht die Kultur macht sie böse, sondern die Tatsache, dass der weiße Mann sie unterdrückt.« Die vermeintlich Unterdrückten sind in dieser Sichtweise lediglich »willenlose Bündel der Marktkräfte«, also selbst Opfer, die Frauen sind bloß »der Nebenwiderspruch in dieser langen Kette an Folgerungen«, und der »weiße Mann« ist die einzig agierende Kraft der Geschichte. »Alle anderen sind nicht nur exkulpiert, es wird ihnen im Grunde die Fähigkeit zu einem Handeln aus eigenem Impuls abgesprochen« – eine Art »Rassismus des Antirassismus«, wie Pascal Bruckner es einmal genannt hat.
In einem ebenfalls sehr lesenswerten Gastbeitrag für die FAZ hat der Autor und Filmemacher Samuel Schirmbeck das muslimische Frauenbild analysiert und deutlich gemacht, dass es konstitutiv für die Angriffe in der Kölner Silvesternacht war. Sexualisierte Gewalt gehöre in Nordafrika und im Nahen Osten zum Alltag; in dieser Hinsicht sei dort »permanent ›Oktoberfest‹ und ›Karneval‹«, und keine Frau könne sich entziehen, indem sie diese Veranstaltungen meidet. Sexuelle Übergriffe seien »in islamischen Ländern die Regel und nicht Ausnahmen«. Der frühere Algerien-Korrespondent der ARD zitiert unter anderem die ägyptische Schriftstellerin und Feministin Mona Eltahawy, die in der französischen Zeitung »Le Monde« schrieb: »Nennen Sie mir den Namen arabischer Länder, und ich werde Ihnen eine Litanei an Beispielen für den schlimmen Umgang – er ist tausendmal schlimmer, als Sie denken – mit Frauen rezitieren, der von einer giftigen Mischung aus Kultur und Religion angefacht wird, mit der sich anscheinend nur wenige auseinandersetzen wollen, aus Angst, der Blasphemie beschuldigt zu werden oder zu schockieren.«
Stimmen der Vernunft
Westliche Frauen, so Schirmbeck, »gelten bei vielen jungen Nordafrikanern als halbe Huren, weil ›sie es ja schon vor der Ehe mit vielen Männern tun‹«. Und längst nicht nur bei vielen Nordafrikanern, sondern grundsätzlich bei vielen männlichen Muslimen, denn: »Die islamische Grundeinteilung der Welt in ›Gläubige‹ und ›Ungläubige‹ ermutigt den Übergriff auf ›westliche‹, gleich ›ungläubige‹ Frauen.« Gleichzeitig gibt es Musliminnen und Muslime, die sich vehement gegen das dominierende islamische Frauenbild wenden; in Deutschland gehören beispielsweise Seyran Ates, Güner Balci und Ahmad Mansour dazu. Letzterer versucht vor allem mit seinem Projekt »Heroes«, archaische Denkstrukturen aufzubrechen und jungen Muslimen dabei zu helfen, ihre fatalen Geschlechterrollenbilder zu überwinden. »In manchen arabischen Kulturen führen Erziehungsmethoden, die auf Tabuisierung der Sexualität und Abwertung von Frauen basieren, zu solchen Taten« wie in Köln, sagt Mansour. »Darunter leiden nicht nur blonde westliche Frauen, sondern auch jede Frau, die die krankhaften traditionellen Vorstellungen ablehnt und versucht, frei zu leben.«
Dass Mansours Einschätzungen und sein pädagogisches Wirken weder bei Linken noch bei Rechten nennenswerten Widerhall finden, ist so bezeichnend wie folgerichtig: Für die Rechten sind Muslime gefährliche, kriminelle Fremde, die man nicht ändern kann, für die Linken sind sie Opfer, und alles, was sie tun, ist letztlich auf diese Eigenschaft zurückzuführen. Aus dieser Ontologisierung lassen sie weder die einen noch die anderen entkommen. Den Linken und Linksliberalen scheint außerdem die Einsicht schwerzufallen, dass es sich bei den Geflüchteten nicht per se um freundliche, hilfsbedürftige und dankbare Menschen handelt, sondern dass sie nun mal aus autoritären, brutalisierten Ländern und Gesellschaften stammen. Dass daraus ein beträchtliches Konfliktpotenzial erwächst, liegt auf der Hand, und es ist fatal, diese Tatsache zu vernachlässigen, sie in Klagen über die Dominanz des »weißen Mannes« zu relativieren oder als rassistisches Stereotyp zu geißeln.
Rechtsstaat und Orbánisierung
Die Bundespolitik versucht unterdessen, durch allerlei Vorschläge, Beschlüsse und Maßnahmen dem Eindruck entgegenzuwirken, dass sie mit der Situation nach den Kölner Angriffen überfordert ist. Und wieder einmal glaubt man, dass die Gesetze nicht ausreichen, sondern unbedingt verschärft gehören. Schon werden die Hürden für eine Abschiebung straffällig gewordener Nichtdeutscher gesenkt, die CSU will Ausweisungen sogar ohne Prozess und Urteil ermöglichen, womit sie mal eben das Prinzip der Unschuldsvermutung für entbehrlich erklärt. In der Öffentlichkeit werden Stimmen lauter, die einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge fordern oder Zuwanderer aus bestimmten Staaten grundsätzlich nicht mehr nach Deutschland einreisen lassen wollen. Es war der Linken-Politiker Jan Korte, der in einem Interview des »Deutschlandfunks« auf elementare Grundsätze des Rechtsstaats hinweisen musste: Das Asylrecht ist ein Menschenrecht, es gilt auch für Straftäter, und im Übrigen gibt es das Strafrecht. »Jeder Deutsche, der straffällig ist, muss der Justiz übermittelt werden, genauso wie jemand mit einem Migrationshintergrund«, sagte er. »Die Menschen sind noch alle gleich. Das ist Artikel eins des Grundgesetzes.«
Auch zur Idee von Sigmar Gabriel, straffällig gewordene Flüchtlinge in ihr Herkunftsland abzuschieben und sie dort die Haft verbüßen zu lassen, sagte Korte, was zu sagen war: »Es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention, die gilt. Wollen wir das alles nicht mehr beachten? Soll ich jetzt einen Kriminellen, der zum Beispiel einen syrischen Fluchthintergrund hat, in Assads Folterkeller schicken, um dort die Haft zu verbüßen?« Es sei die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass es bestimmte humanistische Mindeststandards gibt. Man könne auch nicht einfach Asylsuchende an der Grenze abweisen, weil man sie verdächtigt, kriminell zu sein: »Sehe ich das im Gesicht jemandem an? Soll ich sagen, wer schwarze Haare hat, ist potenziell kriminell? Das kann es doch nicht sein, sondern es gilt nach wie vor, jeder Mensch hat das Recht, Asyl zu beantragen. Es gibt ein Verfahren. Wenn er hier bleiben kann, einen Aufenthaltstitel hat, dann muss er sich an Recht und Gesetz halten, wie das jeder andere auch tun muss, und wenn er das nicht tut, gibt es die Polizei, die Ermittlungsbehörden und schließlich die Justiz.«
Mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik wiederum, die seit den Kölner Geschehnissen erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, wies Thomas von der Osten-Sacken auf Wahrheiten hin, die in der öffentlichen Debatte allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Europa habe »viel dazu beigetragen, dass die Lage in Syrien so eskaliert ist, dass Teile der 14 Millionen Flüchtlinge, die in der Gegend herumirren, auch den Weg nach Europa finden«, sagte er. Langsam bemerke man in Deutschland, dass der Nahe Osten lediglich zwei Flugstunden entfernt ist. »Wenn man dort nicht interveniert, kommt das Gift, das sich dort entwickelt hat, hierher.« Solange die Ursache im Nahen Osten nicht behoben sei, die immer vielfältiger und brutaler werde, gebe es keine Lösung. »Wäre 2012 die Flugverbotszone in Syrien durchgesetzt worden«, so Osten-Sacken, »dann wären die Flüchtlinge jetzt nicht hier«. Man könne sich nicht vor den Flüchtlingsmassen abschotten, die man selbst produziert habe, alleine Griechenland habe »insgesamt 3.700 Kilometer Grenze«. Der Effekt einer Abschottungspolitik sei zudem nur, »dass Europa autoritärer und ekliger wird. Wenn man die Flüchtlinge und nicht die Fluchtgründe bekämpft, führt das zur Orbánisierung Europas.«
Kaum eine Rolle in den Diskussionen spielt auch, dass An- und Übergriffe von Männern für viele weibliche Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak sowohl auf ihrer Flucht nach Europa als auch in den Flüchtlingsunterkünften alltäglich sind. Viele Frauen und Mädchen sind Gewalt, Ausbeutung und sexualisierter Belästigung ausgesetzt, und zwar auf »jeder Station ihrer Reise, auch auf europäischem Boden«, wie es in einem Bericht von »Amnesty International« heißt. »Nachdem sie die Schrecken des Krieges in Syrien und im Irak erlebten, haben diese Frauen alles riskiert, um für sich und ihre Kinder Sicherheit zu finden«, sagte eine Amnesty-Mitarbeiterin. Doch stattdessen erführen sie weitere Demütigung und Unterdrückung – und nur »wenig Unterstützung oder Schutz«. Eine Problematik, bei der ein immenser Handlungsbedarf besteht und die in der Debatte über »Köln und die Folgen« eigentlich einen großen Raum einnehmen müsste. Doch für sie ist inmitten all der Befindlichkeiten und Gewissheiten kein Platz.