Eine Infragestellung

SN/APA/Hans Punz http://www.salzburg.com/nachrichten/dossier/bundespraesidentschaftswahl-2016/sn/artikel/bundespraesidenten-stichwahl-muss-wiederholt-werden-203106/

Nachdem nun einige Tage ins Land gezogen sind, seit das Verfassungsgericht entschieden hat, die Stichwahl für das Amt des Bundespräsidenten wiederholen zu lassen, scheint es mir an der Zeit zu sein, laut über den demokratischen Wert einer Wählerinnen-Stimme nachzudenken. An verschiedenen Stammtischen sind Verständnislosigkeit und Wut bereits unüberhörbar, ebenso wie im sozialen Netzwerk: Boykottaufrufe und „jetzt-erst-recht-Parolen“ liegen gleichauf, von sinnloser Geldverschwendung ist die Rede, ebenso wie von Stimmenraub. Menschen, die mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtes und dessen Folgen zufrieden sind, hört man nur wenige. In- und ausländische Journalistinnen beginnen - nach einer zustimmenden journalistischen Schrecksekunde - ebenfalls laut über die Konsequenzen dieses Urteils nachzudenken.

Eigentlich ist ja alles in bester Ordnung: Die Österreicherinnen und Österreicher haben im Herbst Gelegenheit, den zukünftigen Bundespräsidenten zu wählen, und sie können sicher sein, dass dabei dann alles „mit rechten Dingen“ zugehen wird. Der Innenminister übt sich in maximal vorauseilendem Gehorsam und will sogar Wahlbeobachterinnen einladen, um zu zeigen, wie gut das alles funktionieren wird. Der Wahl wird ein Wahlkampf vorangehen, in dem alle Argumente, die wir schon kennen, wieder und wieder wiedergekäut werden, vielleicht entdecken die Wahlkampfbüros noch die eine oder andere Möglichkeit, ihren Kandidaten ins Rampenlicht (oder den anderen unter einen Schmutzkübel) zu stellen. Und wir werden im Herbst zur Wahl gehen und abstimmen. Es ist eigentlich alles in bester Ordnung.

Blöd ist nur, dass das bereits alles geschehen ist. Und vor allem, dass das hohe Gericht daran auch überhaupt nichts auszusetzen hatte. Wir haben unsere Stimme bereits für den einen oder den anderen erhoben. Und es konnte keine einzige Manipulation dabei nachgewiesen werden.

Die Gründe, die den Verfassungsgerichtshof zur Aufhebung der Wahl veranlassten, sind allesamt nicht nur mit dieser konkreten Wahl in Zusammenhang zu bringen, sondern mit praktisch allen Wahlen, die in Österreich seit Einführung der Wahlkarten und der Hochrechnungen durchgeführt wurden.

Die Konsequenzen des Urteils treffen aber mitten ins Herz der Demokratie: Sie entwerten mehr als 4 ½ Millionen Stimmen, die am 22. Mai für die beiden Kandidaten erhoben wurden. Das Besondere daran ist, dass dieses Votum in einem Umfeld stattgefunden hat, das heute und morgen nicht mehr existiert. Eine „Richtigstellung“ durch Wiederholung ist also nicht möglich, wird doch der neuerliche Urnengang durch andere soziale, emotionale, wirtschaftliche, politische und sonstige Rahmenbedingungen beeinflusst sein (alleine schon die europapolitische Situation, die aus dem britischen EU-Austritts-Votum entstanden ist, stellt die Wahl in ein völlig neues Licht).

Es ist also völlig unmöglich, diese Wahl vom 22. Mai zu reparieren bzw. deren Ergebnis richtig zu stellen oder zu bestätigen. Das Wahlergebnis im Herbst wird ein ganz Neues sein, wie auch immer es ausfällt, das heißt im Klartext: Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2016 wird jedenfalls ein verändertes sein, ein durch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes beeinflusstes.

Was ist also der demokratische Wert dieser etwa viereinhalb Millionen Stimmen, die am vergangenen Freitag annulliert wurden?

Und was ist der Wert der verfahrensrechtlichen Fehler und Schlampereien, die seit Jahrzehnten gängige Praxis sind, die allen relevanten Stellen (vom Innenminister bis zur Bürgermeisterin) bekannt sind (auch einem Verfassungsrichter, der selbst Wahlleiter war) und längst und begleitend (die Anzahl der Briefwähler steigt nicht erst seit Mai 2016, auch soziale Netze gibt’s schon seit einiger Zeit, …) hätten „repariert“ werden können?

Die Konsequenzen dieses weltweit einzigartigen Urteils treffen die Falschen: Dieses Urteil entwertet 4.643.154 ordentlich und mit politischem Engagement getroffene Wahlentscheidungen von genauso vielen Österreicherinnen und Österreichern. Verständnislosigkeit, Ärger und Wut darüber sind nachvollziehbar – egal wogegen sie sich richtet.

Sollte ein Urteil nicht viel eher die politisch für diese Schlampereien und Fehler verantwortlichen treffen? Da steht an erster Stelle die Innenministerin oder der Innenminister, die bzw. der für den ordentlichen Vollzug der Gesetze verantwortlich ist. Verantwortlich – das muss hierzulande deutlich und klar gesagt werden – bedeutet, sich auch verantworten zu müssen.

Von Verantwortung ist aber weit und breit nichts zu bemerken, ganz im Gegenteil: Der Herr Innenminister lenkt ab, indem er die OSZE einlädt, Wahlbeobachter zu entsenden.

Was also ist eine erhobene Stimme Wert? Und was ist der Wert von 4.643.154 erhobenen Stimmen, bei denen keine einzige Manipulation nachgewiesen werden konnte?

Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Urteil in Kauf genommen, dass alle diese Stimmen wertlos und die Menschen demokratieverdrossen, gleichgültig, und vielleicht sogar wütend werden - und damit der Demokratie möglicherweise einen Bärendienst erwiesen. Da passt es dann auch ganz gut ins Bild, dass darüber hinaus durch diese Entscheidung auch noch der Bock zum Gärtner gemacht wurde (siehe dazu auch den Beitrag von Bernhard Odehnal im Schweizer Tagesanzeiger - Ein Sieg der Demokratie sieht anders aus)

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