Ich habe mich in den vergangenen Wochen nach dem Massaker in Nizza aus zwei Gründen nicht zu Wort gemeldet.
Zum einen haben mich die Gewalttaten – mit oder ohne IS-Terrorhintergrund – länger zum Nachdenken bewegt. Weshalb passiert das gerade jetzt? Weshalb sinken die Grenzen der Gewaltbereitschaft immer weiter, und weshalb muss man zu jeder Zeit und aller Orts nicht nur auf konzertierte Anschläge gefasst sein, sondern auch darauf, dass einem der frustrierte oder psychisch bediente Nachbar, Schüler oder gänzlich Unbekannte das Messer in den Rücken stechen? Weshalb brechen scheinbare Normals zu Blutorgien auf, an deren Ende der eigene Tod nicht nur einkalkuliert, sondern vermutlich angestrebt wird?
Zum anderen hatte ich privaten Handlungsbedarf. Nicht nur, dass die schulischen Leistungen meiner Tochter im Frühjahr dramatisch nachließen, sondern auch ihr Verhalten mir gegenüber hatte sich nachhaltig verändert. Es flogen mir Diktionen um die Ohren, die ich von ihr nicht kannte, die Wortwahl, ihre Aktionen und Reaktionen auf mich kamen mir wie ein Pubertätsamoklauf vor, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Also verordnete ich uns eine Woche Tochter-Papa-Urlaub in den Bergen. Offline, ohne Telefon oder Internet, denn im malerischen Rauriser Endtal, ganz hinten in Kolm Saigurn im Naturfreundehaus, hat die Technik Pause. Vor allem das Erklettern des Hohen Sonnblicks und die Übernachtung auf mehr als 3100 Metern sollte die Nagelprobe werden: Blindes Vertrauen auf den anderen (und dessen Anweisungen) auf schmalen Klettergraten, wo es auf beiden Seiten hunderte Meter senkrecht bergab geht, ist unabdingbar – eine Eigenschaft, die ich bei meiner Tochter in der letzten Zeit vermisste.
Offline zu sein – im vertrauten Wien die schlimmste Horrorvorstellung für meinen Nachwuchs – war auf einmal kein Problem. Weder im Auto, noch in den „Zauberwäldern“ entlang des Wasserfallrundwegs, noch bei der zehn Stunden Tour auf den Sonnblick-Gipfel. Ohne das Whatsapp-Geschreibsel mit FreundInnen, das Glotzen von stumpfen und derben YouTube-Möchtegernstars und ohne dem Spielen von monotonen Games war meine Tochter wie ausgewechselt. Doch noch bereitete mir der Abstieg vom Gipfel eine schlaflose Nacht: Bei zwei besonders heiklen Kletterpassagen würde sie mir bedingungslos vertrauen müssen wenn ich ihre Tritte lenke, ohne dass sie sieht, wohin sie steigt. Die Üblichen Diskussionen bei jeder Kleinigkeit, das absichtliche Ignorieren von Anweisungen könnte am Berg fatale Folgen haben. Nun, auch das hat funktioniert. Ich dachte, dass ich meine „alte“ Tochter wieder zurück hätte – so harmonisch war unser Umgang wieder…
…was genau bis fünf Stunden nach unserer Rückkunft anhielt. Kaum wieder online waren Wortwahl und Verhalten zurück, was mir gar nicht passte.
Die Online-Welt ist hart. In Chats braucht man Ellbogen um sich zu behaupten. Brutale und derbe Sprache ist angesagt, leise Töne werden nicht gehört. Außerdem ist es ja eh wurscht, man ist sowieso meist anonym. In Ego-Shootern ist Rücksichtlosigkeit und Brutalität erwünscht, der Blutrausch das erklärte Ziel. Egal wenn man „stribt“, es gibt eh ein Reset und ein Replay. Wer auf Facebook & Co. am Untergriffigsten und Extremsten ist, bekommt die Aufmerksamkeit, Harmonie ist dort nicht mehr erwünscht. Die Diskussionskultur ist längst zertrümmert, ständige virtuelle Amokläufe sind das Salz in der Social-Media-Soup.
„Papa, das sieht hier aus wie in Minecraft, nur viel, viel schöner“, war Liza beim Anblick der Hohen Tauern, der Berghänge, Schneefelder und Almwiesen begeistert. Der Paradigmenwechsel ist vollzogen, der Maßstab und das Vorbild ist nun die virtuelle Welt. An ihr hat sich die Realität – und was man in ihr tut und erreichen will – zu messen. Massakriere ich im Egoshooter, bin ich der Hero – endlich ist das Ziel erreicht, das ich in der realen Welt niemals kann. Außer ich zeige es ihnen mal so richtig…
Und nein, ich bin nicht der Meinung, dass das „pöse, pöse Internet“ das Grundübel allen (IS-) Terrors ist. Es hat nur Hemmschwellen bei einigen völlig ausradiert…
Haide Media