Orwells Klassiker „1984“ gilt als ein literarisches Mahnmal. Es beschreibt nicht nur eine dystopische Welt, sondern liefert, wenn auch fragmentiert, einen Weg aus seiner damaligen Welt in dieses Dystopia.
Die Welt von 1984 ist von einem System geprägt in dem alles von oben herab diktiert wird und unten genau das gesagt und gedacht werden muss was von oben verordnet wird, ansonsten landet man in der Folterkammer des Ministeriums für Liebe.
Das System selber überwacht seine Bürger auf Schritt und Tritt, manche aber mehr, andre weniger. Die Arbeiterschaft etwa wird kaum überwacht, sondern mit Brot und Spielen (der "Lotterie" ) bei Laune gehalten. Die Oberschicht (die „innere Partei“ ) hat auch einen Haufen Freiheiten. Der Mittelstand aber trägt Daumenschrauben.
Fast seit der Entstehung dieses Werks gibt es das Motto, dass 1984 eine Warnung und keine Anleitung sei. Vieles von dem was in den 1950igern noch absurd wirkte ist aber längst Realität. In 1984 etwa diktierte die Regierung von einem Tag auf den anderen, dass der Todfeind plötzlich der Verbündete war und der gerade noch Verbündete der Feind. Und das sei nichts Neues, das war immer schon so.
Das ist in unserem Fall Realität. War Rambo III noch „dem tapferen afghanischen Volk“ gewidmet, waren die Helden des einen Films recht bald die Schurken im Nächsten. Geschichte unterliegt immer einer Färbung aber die Geschwindigkeit der Umfärbung ist heute doch erstaunlich, nicht aber so erstaunlich wie die Geschwindigkeit in der das Volk diese neuen Fakten, ohne Widerstand, akzeptiert.
Aber zurück zum Buch.
Im Zentrum des originalen Werkes stand Winston Smith der, zumindest auf einer intuitiven Ebene, erkannte dass das System mies ist. Wir begleiten ihn auf dem Weg hin zur Erkenntnis, über seine Rebellion bis zur logischen Konsequenz seiner Rebellion.
Wir haben aber 2021, also muss eine Überarbeitung her. Die Überarbeitung stammt aus der Feder von Sandra Newman und sie erzählt nun die Geschichte aus der Sicht von Julia. Julia ist die Geliebte von Smith und schreibt beruflich Propaganda und Doktrin für die „Anti-Sex League“, hält sich aber im geheimen selber, wenn möglich, nicht daran. Sie wird als eine „Rebellin von der Taille abwärts“ beschrieben, davon abgesehen ist sie aber nicht, im Gegensatz zu Smith, fundamental mit dem System unzufrieden sondern räumt sich nur ein paar Freiheiten ein.
Smith verkörperte den Teil des Volkes das sich von dem System befreien will, Julia den Teil der es sich eben im System richtet.
Das Buch ist noch nicht veröffentlicht. Wir wissen nicht wie Julia ist aber basierend auf der linientreue der Autorin (mit Partei und Narrative) können wir annehmen, dass Julia mehr als nur eine Affäre in dem Buch haben wird (und vermutlich nicht nur mit Männern). Smith wird daher nicht mehr als eine Fußnote bekommen. Wenn Newman sich wenigstens grob an die Vorlage von Orwell hält, und eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht, wird es eine Geschichte einer Frau die in einem unterdrückerischen System sexuelle Befreiung sucht. Über all die anderen Dinge rund um sie (etwa: Krieg, Wirtschaft, Rechte, Politik, Machtstrukturen, etc) aber keine Sekunde nachdenkt.
Julia ist eine Frau die akzeptiert, dass das Flugzeug von der Partei erfunden wurde, dann das ist was die Partei sagt.
Sie akzeptiert, dass die Lebensmittelproduktion jedes Jahr besser ist, obwohl die Märkte immer weniger haben. Julia ist die nützliche Idiotin die das System am laufen hält. Sie vögelt nur eben lieber als die Partei gern hätte.
Julia ist dabei keine unsympathische Figur. Sie ist nur in der Vorlage recht langweilig und das aus gutem Grund. Orwell hat sie nicht als Charakter vernachlässigt. Julia ist so. Julia ist banal und weitgehend, wenn aber eben auch nicht vollständig, angepasst.
Julia ist der Teil der Bevölkerung die sich arrangiert hat, die gelernt hat mit dem System zu leben und gelegentlich die Regeln biegt, aber niemals bricht.
Julia ist damit das was das System erreichen kann: ein Mensch der sich fügt und der denkt rebellisch zu sein wenn er kleine Überschreitungen wagt die für das System am Ende des Tages völlig unerheblich sind.
Unser System aber ist von der Perspektive dieser Überarbeitung begeistert. Es wird schon von Filmen und Serien gesprochen.
1984 ist aus vielen Gründen prophetisch. Es ist dabei völlig klar dass, wenn 1984 Realität wird, das Buch selber verschwinden muss, besser noch: durch etwas ersetzt werden muss mit dem das System besser leben kann.
Das Werk sagte im Grunde seine eigene Vernichtung voraus. Die Vernichtung passiert nicht am Scheiterhaufen, sondern durch das subversive Ändern. Zuerst ergänzen wir 1984 durch eine Sichtweise und langsam aber sicher verabschieden wir uns dann von dem problematischen Original und ersetzen es durch das systemunkritische Buch, das dann wieder, wenn die Zeit gekommen ist, ergänzt und dann ersetzt wird. Es geht dabei nicht um eine weibliche Perspektive, es geht nur darum ein gefährliches Buch los zu werden.
Denn genau so agiert eben das Ministerium für Wahrheit in Buch und in unserer Welt.
Orwell hatte eben Recht.
metro goldwyn mayer www.goconqr.com