Vor vielen Jahren sagte eine Bekannte zu mir dass sie erst kürzlich gelernt hat dass auch in „den Niederungen der Praxis“ Menschen leben die über Dinge nachdenken. Davor war sie der festen Überzeugung dass nur „ihre Leute“, also Menschen die Geisteswissenschaften studiert haben, das nötige Rüstzeug besitzen würden um über die Welt nachzudenken. Dem studierten Physiker, Mathematiker oder einfachen Kemptner, so dachte sie, würde die nötige Bildung und Einsicht schlichtweg fehlen. Es gilt hier festzuhalten dass für sie jeder der sich mit praktischen Problemen beschäftigt in diesen ominösen "Niederungen der Praxis" sei. Architekten, Mechaniker, Chemiker und Metzger wären alle mehr oder weniger gleich primitiv, so ihre Sichtweise.
Zu einem anderen Zeitpunkt sagte ein Bekannter in einer Debatte über Demokratie dass Demokratie daran kranke, dass auch der Arbeiter bekommt was er möchte. Das sei das Problem und das gilt es durch Reform zu beheben, in einer guten Demokratie hätten nur Leute wie er etwas zu sagen.
Beide Aussagen entstammen natürlich von bekennenden Sozialisten die „das Beste für die Menschheit und den Planeten wollen“ und was sie verbindet ist nicht nur grenzenlose Arroganz sondern vor allem ein Halbsatz der denn da lautet: „Wenn sogar ich …“
Die Grundannahme hinter dem Satz ist recht einfach: dieser Menschenschlag geht davon aus dass er deutlich klüger, kultivierter, gebildeter, einsichtiger und erleuchteter ist als seine Mitmenschen. Das ist für sich betrachtet kein wirkliches Problem.
Menschen mit einem überhöhten Selbstwertgefühl neigen dazu entweder unorthodoxe Dinge zu probieren und sich von Fehlschlägen nicht ablenken zu lassen oder aber sie versuchen ihre Umgebung zu kontrollieren.
In anderen Worten: sie gehen entweder einen aktiven Weg oder einen passiven Weg. Im aktiven Weg tun sie was sie tun möchten und im passiven Weg versuchen sie zu unterbinden dass ihre Mitmenschen tun was diese tun möchten.
Da sie sich mit den Menschen, die ihrer Meinung nach kontrolliert werden müssen, nicht abgeben bleibt ihnen nur ein eher theoretischer Zugang und dieser sieht meistens wie folgt aus:
Dieser primitive Menschenschlag sei im Grund wie sie, mit ähnlichen Wünschen, Zielen und Weltbildern, nur eben dümmer und schlechter (ie: Charakterschwächer ).
Das bedeutet aber dass jede Charakterschwäche die sie nun in sich selber finden „nach unten“ verstärkt projiziert wird. Ein klassisches Beispiel ist Rassismus. Viele meiner Bekannten, die sich als Teil der geistigen Elite verstehen, sind in Wirklichkeit unheimlich rassistisch (verstehen sich aber als "Antirassisten" ).
Sie sind aber gleichzeitig davon überzeugt dass sie „besser“ seien als der Rest und das führt zu der, für sie völlig logischen, Annahme dass in „den Niederungen der Praxis“ der Rassismus noch deutlich schlimmer ausfällt als bei ihren Cocktailpartys.
Und genau hier bricht dann das Kartenhaus zusammen. Die eigene Überheblichkeit verblendet die Menschen und macht sie blind für eine naheliegende Wahrheit: viele dieser „Primitiven“ sind deutlich netter, menschlicher, freundlicher und gerechter als die selbsternannte Elite.
Diese Schlussfolgerung kann man aber nur treffen wenn man sich mit entsprechenden Menschen abgibt und mit ihnen redet, anstatt auf sie herab zu predigen. Die damit verbundenen Probleme ziehen sich durch Freundschaften, Firmen, Unterhaltungsindustrie und natürlich die Politik.
Das Heilmittel ist, wie so oft, eine Dosis Demut und die Einsicht dass es eventuell nicht so schlecht ist wenn der Arbeiter bekommt was er will, Menschen die kein Psychologiebuch gelesen haben ein Einfühlungsvermögen besitzen und Menschen die weder Friedmann noch Marx gelesen haben das Konzept „Geld“ verstehen können und die meisten Menschen sich bemühen gut zu sein.
Wann auch immer Du dich dabei ertappst Deine eigenen Charakterschwächen auf „die da unten“ zu projizieren und zu erwarten dass alle Menschen schlechter sind als du selber, halte inne und tu das Einzige das die Welt verbessert: bekämpfe deine eigene Charakterschwäche, anstatt sie mit der Annahme zu entschuldigen, dass die restliche Welt noch schlimmer wäre, denn oftmals, öfter als Du glauben magst, ist das nicht der Fall.
Und diese Wahrheit sollte uns Hoffnung geben.
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