In meiner entfernteren Verwandtschaft gab es eine sehr fromme Frau. Sie ging jeden Sonntag in die Kirche und alles in ihrem Leben hing irgendwie immer mit Gott zusammen. Die Dreifaltigkeit verstand sie aber ihr ganzes Leben nicht. Sie verstand also essenzielle Teile ihres Weltbildes nicht, pochte aber auf deren Wahrheit.
Teil einer Gruppe zu sein bedeutet nicht, dass man versteht, wofür die Gruppe steht. Die meisten Menschen, für die ihre Mitgliedschaft in einer Gruppe sehr wichtig ist, haben sich diese Gruppe nicht ausgesucht. Fast alle religiösen Fanatiker folgen der gleichen Religion wie ihre Großeltern oder aber invertieren diese Weltsicht. Die fanatischsten Atheisten kommen nicht selten aus fanatisch gläubigen Haushalten und tun, was ihre Eltern tun, nur mit verdrehten Vorzeichen. In politischen Belangen ist es oftmals ähnlich.
Aber was ist dieses Weltbild überhaupt? Das Weltbild ist im Großen und Ganzen unser Dekodierungsmechanismus, durch den wir die Welt verstehen.
Wichtig ist aber zu verstehen, dass dieser Dekodierungsmechanismus nicht notwendigerweise mit der realen Welt zusammenhängen muss, genauso wie eine Brille nicht mit dem Gemälde zusammenhängt, das durch die besagte Brille betrachtet wird. Das Weltbild begünstigt nur eben gewisse Interpretationen. Der Religiöse sieht überall Gott, der Nationalist sieht überall Völker, der Sozialist sieht überall Unterdrückung, der Kapitalist sieht überall rationale Akteure, und so weiter.
Natürlich existieren Mischformen, wie etwa der Nationalsozialist der unterdrückte Völker sieht.
Die meisten Menschen bleiben bei der Brille, die ihnen in der Kindheit aufgesetzt werden, ein Teil bleibt bei der Brille, die sie in der Jugend ausprobiert haben und sehr wenige trauen sich scheinbar unterschiedliche Brillen auszuprobieren.
Aber warum? Warum experimentieren wir nicht mit unterschiedlichen Brillen?
Der Grund dürfte in den sozialen Folgen zu suchen sein. Sein Weltbild zu ändern hat soziale Konsequenzen. In der Kirchengemeinde ist sehr rasch kein Platz mehr für Menschen, die nicht an Gott glauben. Um Teil der Gemeinschaft zu sein, muss man also zu mindestens so tun als würde man die dominante Realität als gegeben akzeptieren. Die Evolution stattete uns sogar mit einem Mechanismus aus um in Krisensituationen sehr rasch ein neues Normal zu akzeptieren: das Stockholmsyndrom.
Stellt man Menschen vor die Wahl etwas zu sagen das sie nicht glauben oder alternativ einen wesentlichen Teil ihres sozialen Umfeldes zu verlieren werden sie lügen oder sich einreden, dass das was sie denken, fühlen und beobachten können eine Illusion ist.
Die alte Frau war nicht fromm, weil sie es sich ausgesucht hat oder weil Gott sich ihr offenbart hat. Sie war fromm, weil sie in ihrem kleinen Dorf damit soziale Punkte sammeln konnte.
Die einzigen die sich nicht verbiegen müssen sind Menschen an, der die Gemeinschaft nicht vorbeikommt. Wenn man etwas zur Gesellschaft beiträgt das alle brauchen kann man wunderlich sein. Der Reiche kann exzentrisch sein, der Nichtsnutz hingegen muss Erwartungen erfüllen.
Unsere Weltbilder sind eng mit unseren sozialen Gruppen verbunden. Menschen ändern ihre Weltbilder nicht und belügen sich selber weil sie keine andere Wahl haben.
Und das wissen die Mächtigen.
Wer die Weltbilder kontrolliert, kontrolliert die Masse. Das war immer so, das wird immer so sein. Das Problem ist dass die Machtverhältnisse in erstaunlicher Geschwindigkeit kippen können.
Erinnern wir uns an Covid, der von einer FPÖ-Verschwörungstheorie zu einer essentiellen Bedrohung in grob 10 Tagen wurde, obwohl sich Nichts an der Situation geändert hatte. Menschen die „immer schon gesagt haben dass das Unsinn ist“ haben eine Woche später „immer schon gesagt dass das eine Gefahr ist“.
Unsere Weltbilder dekodieren die Welt aber die meisten Menschen haben kein eigenes Weltbild sondern benutzen das das sie benutzen müssen um am sozialen Leben teilnehmen zu dürfen. Eine Alternative in Betracht zu ziehen ist für viele eine schlichtweg zu große Gefahr.
Und das ist eigentlich verflixt traurig.