Eine gängige Argumentation unserer Zeit ist, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter leben würden, Menschen würden nicht mehr Fakten vertrauen sondern irgendwelchen Lügnern. Das aktuell amüsanteste Beispiel sind Streitereien zwischen Impfgegnern und Impfpflichtbefürwortern. Amüsant ist die Sache, weil beide exakt das Gleiche sagen: sie hätten unbestreitbare Fakten und die anderen werden systematisch in die Irre geführt. Des einen Experte ist der anderen Scharlatan.
Aber ist das etwas Neues?
Ich würde argumentieren, dass das der absolute Normalzustand war und ist. Der Unterschied zur Zeit der Altvorderen ist im Wesentlichen die Globalisierung, insbesondere die Zugänglichkeit von Informationen.
Früher gab es einen gesellschaftlichen Konsens, der war aber niemals weltweit einheitlich. Der Deutsche dachte deutsche Dinge und der Schwede schwedische Dinge. Man stritt sich in Europa natürlich darum welche die wahre Religion war aber der Buddhismus spielte bei dem Streit keine Rolle, weil es keine Stimmen gab die ihn vertraten. Gruppen haben eine gewisse Neigung einen Konsens herzustellen. Dieser Mechanismus ist im Grunde sehr einfach: wenn man das Gefühl hat mit einer Meinung alleine dazustehen, gibt’s man die Position irgendwann auf oder redet wenigstens nicht mehr darüber. Das führt dazu, dass die nächste Generation mit diesen Sichtweisen nicht einmal mehr in Kontakt kommen kann und das führt zu Homogenität.
Was die Gruppe also denkt ist das was die nächste Gruppe denken wird. Mit Variationen die Diametral wirken, aber in Wirklichkeit nicht sind. Für die Teilnehmer des dreißigjährigen Krieges war klar dass Katholiken und Protestanten sich diametral unterschieden, aus heutiger Sicht fragt man sich wie man zu diesem Schluss hat kommen können, sind sich die beiden doch so ähnlich, im Vergleich mit etwa dem Taoismus.
Die Möglichkeit auf alle Philosophien der Welt per Klick zuzugreifen trat die Türe zum freien Markt der Ideen weiter auf als die meisten vertragen können. Die meisten Menschen wollen üblicherweise keine Entscheidungen treffen sondern „das Richtige tun“ oder „bei den Guten stehen“. Das Richtige und Gute ist dann das was die Autorität sagt oder die Masse tut. Wenn aber plötzlich offensichtlich wird dass es nicht nur eine Autorität gibt sondern Tausende, nicht einen Mainstream sondern unzählige, ist es eben nicht mehr so einfach mitzuschwimmen und sich selber selbstsicher auf die Schulter zu klopfen.
Das Internet hat offensichtlich gemacht, dass Wahrheit eine verflixt relative Größe ist und aus einer Faktenlage sehr unterschiedliche Wahrheiten gezimmert werden können und werden.
Viele dieser Wahrheiten sind Unsinn aber viele andere sind durchaus vergleichbar in ihrer Anwendbarkeit im Bezug auf die echte Welt. Es gibt etwa durchaus vernünftige Gründe warum wir links mit dem Auto fahren sollten und es gibt Gründe dagegen. Die Idee, dass eines der beiden Dinge richtig ist und eines falsch ist nicht wirklich haltbar, auch wenn es vielen als eine unbestreitbare Wahrheit erscheint.
Die Frage ist ob das ein neues Normal darstellt oder sich die Meinungen nun weltweit harmonisieren werden, wir irgendwann alle tatsächlich das Gleiche denken und sagen werden, wir alle den gleichen Experten glauben werden und die Abweichler weltweit als Scharlatane verlachen werden oder ob wir in einem Zustand bleiben in dem wir uns Menschen die dreitausend Kilometer entfernt sind näher fühlen als unseren Nachbarn, weil man die gleiche Philosophie teilt?
Beides ist möglich, nur eines ist sicher: stets wird es ignorierte Menschen geben die es verdienen würden das man ihnen Gehör schenkt und Schlangenölverkäufer die Millionen von Menschen in die Irre führen. Der Unterschied zwischen Experte und Scharlatan ist leider sehr oft nicht seine Kompetenz, sondern oftmals nur seine Fähigkeit zu überzeugen und was er war ist oftmals das Arbeitsfeld des Historikers.
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