Eine der zentralen Fragen, vor allem junger Menschen, ist „Wer bin ich?“. Diese Frage wird heute aber anders beantwortet als vor vier Generationen. Diese Änderung war zwar erwünscht, aber nicht mit dem Resultat das wir heute sehen. Was aber ist schief gelaufen?

In der Vergangenheit war es einfach zu wissen wer man war. Man war Untertan eines Königshauses, Landsmann seiner Nachbarn und Mitglied in der ansässigen Kirche. Man war Kind seiner Eltern, man war Tochter und wurde Mutter oder man war Sohn und wurde Vater. Man übernahm den Hof den die Familie schon immer hatte, führte den Beruf der Eltern fort und so weiter. Kaum etwas war optional und weil es nicht wirklich optional war, gab es wenig Streit um die Identitäten, außer genau dort wo es optional war: etwa um die Religion, denn an was man glaubt ist eine Wahl.

Optionale Unterschiede führen zu Konflikten. Tausende von Menschen starben etwa, weil sie, als Gruppen, darüber stritten ob man Bilder von Gott malen darf oder nicht.

Mit unserer steigenden Fähigkeit zu beobachten was anderswo passiert stiegen diese Spannungen an. Plötzlich hatte man die Möglichkeit zu sehen was andere Herrscher tun und man konnte, einfacher als seine Vorfahren, in ein anderes Herrschaftsgebiet ziehen. Damit war es plötzlich optional welcher Nationalität man angehört und man konnte plötzlich auch als Schwede französische Ansichten in Italien vertreten. Dies führte zu Reaktionen. War man früher eben Dähne, weil man eben in Dänemark geboren wurde, war es plötzlich schick darauf auch besonders stolz zu sein. Man war stolz auf die Entscheidung Däne zu bleiben. Der Nationalismus begann zu blühen.

Nach der Katastrophe der Weltkriege entstand die Idee, dass all diese Identitäten nur zu Konflikten führen würden und man alle Identitäten durch nur eine einzige Identität ersetzten müssten: wir müssten aufhören Söhne und Mütter, Anhänger von Religionen und Nationen zu sein und beginnen uns alle nur als Menschen zu sehen, denn wenn wir alle Menschen (und sonst nichts) sind dann gibt es eben keinen Grund mehr zu streiten.

John Lennon besingt diese Ideal der 68iger etwa in seinem Lied „Imagine“: Man möge sich eine Welt vorstellen in der es keine Religion, Nation, Besitz, Länder und so weitergibt, sondern eben nur noch eine „Bruderschaft der Menschen“ („brotherhood of man“)

Schritt um Schritt wurden die alten, selbstverständlichen Identitäten marginalisiert. Man könnte sagen wir emanzipierten uns von unseren alten Identitäten und für einen Moment waren viele einfach nur Menschen.

Das aber kam mit einem Problem: nur Mensch sein ist fast allen zu wenig.

Identität bedeutet nicht nur zu wissen was man ist, es bedeutet auch zu wissen wer oder was man nicht ist. Die Welt ist voller fürchterlicher Dinge und es ist Menschen wichtig nicht Teil von denen zu sein die diese Dinge tun. Früher bedeutete das, dass man eben nicht Teil der plündernden Vandalen war sondern Teil des zivilisierten römischen Imperiums.

Heute ist die Sache komplexer. Will man etwa heute nicht Teil einer heteronormativen patriarchalen Struktur sein kann man zwar Feminist werden, aber muss sich sogleich auch deklarieren wen man da unterstützt: nur Frauen die als solche auf die Welt gekommen sind, auch solche die durch medizinische Maßnahmen Frauen geworden sind oder aber auch Menschen die keine Veränderungen vorgenommen haben, sich aber als Frauen identifizieren. Und das ist nur der Einstieg in den Spaß und in eine Gruppe die in sich tief zerstritten ist.

Wir haben heute eine unübersichtliche Menge an Identitäten die im Wesentlichen an allen Ecken und Enden nur Probleme bringen. Mit dem Marginalisieren der alten Identitäten haben wir es nicht geschafft alle Menschen zu werden, im Gegenteil, wir sind von dem Ideal weiter weg als wir vor zweihundert Jahren waren. Und das ist bitter.

Die alten Identitäten sind seltener geworden aber noch da.

Im Gegensatz zur Innenstadt gibt es in der Vorstadt noch intakte Familien, noch Plätze wo man einfach Tante oder Großvater ist, Plätze wo Menschen mit sehr wenigen aber wichtigen Identitäten leben. Plätze wo Menschen über ihre Identitäten nicht nachdenken.

Es ist nicht verwunderlich, dass der randalierende Mob, vor allem in den USA, aus der Stadt herauszieht und seine Verachtung jenen ins Gesicht brüllt die haben was sie nicht haben: stabile, bedeutungsvolle Identitäten: eine Gemeinde, eine Familie und echte Solidarität zwischen Nachbarn.

Wir werden es nie schaffen uns alle „nur als Menschen“ zu sehen, nicht jedenfalls solange wir keinen anderen finden der die Funktion des „Anderen“ erfüllen kann.

Die Flucht in die Neo-Identität ist ein kümmerlicher Ersatz für das Fehlen der alten, bedeutungsvollen Identitäten, vor allem die Identität als Tochter und Vater, Mutter und Sohn, Tante, Großvater, Cousine, Neffe und so weiter.

Wir haben die Familie nicht überwunden, wie Lennon sagen würde, sehr viele haben sie nur verloren und versuchen nun diesen Verlust mit inadäquaten Mitteln zu kompensieren, eine Kompensation die Millionen von Menschen in die Depression führen und uns als Menschheit nicht zusammenbringen sondern so mehr Gräben zwischen uns errichtet hat als je irgendetwas anderes zuvor.

Wollen wir das?

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