Ein Plädoyer für eine irrationale Gesellschaft

Menschen sind nicht rational. Die Frage ist, ob dieses Faktum verflucht oder zelebriert werden soll. Bis zur Aufklärung war die Kultur recht irrational organisiert. Monarchen herrschten, weil sie herrschten, Dinge kosteten, was sie kosteten, und man glaubte an die Götter an die man glaubte. Ab und an versuchte man sich an Beweisen und Rechtfertigungen aber in Wirklichkeit kümmerten sie selten jemanden. War der König nun ein Nachfahre der Reichsgrüner, hatte er ein göttliches Mandat oder wollte das Volk wirklich, dass er über sie herrschte? Das waren Fragen für seine Herausforderer, das Volk kümmerte das im Grunde nicht wirklich und aus gutem Grund: die Rationalität unterlag ohnehin immer demjenigen der mehr spitze Stöcke mobilisieren konnte.

Seit der Aufklärung probierten wir es anders. Die Idee ist, dass es eine ideale Lösung für jedes Problem gibt, und mittels der wissenschaftlichen Methode müsse sich diese ideale Lösung ermitteln lassen. Mehr oder weniger alle modernen Ideologien folgen dieser Idee: sie formulieren ein Ideale und suchen, mittels systematischer Rationalität, den Weg, der zu diesem Idealzustand führt.

Das Problem ist, dass Menschen aber eben nicht rational sind und die Welt rund um uns sogar noch weniger. Was richtig und was falsch ist, ist ständig im Fluss, sogar wenn man ein Problem rein rational betrachtet. Betrachtet man etwa die Frage „was die richtige Menge an Migration ist“ rein rational wird man zum Schluss kommen müssen, dass der Wert irgendwo zwischen sehr klein und sehr hoch liegt, je nachdem wie die Lage gerade ist.

Wurde das eigene Land gerade entvölkert braucht man viel, ist man überbevölkert braucht man weniger als Null.

Den einen rationalen, korrekten Wert gibt es also nicht, nicht zuletzt, weil irgendwo die Subjektivität ohnehin lauert.

Wie stark bewertet man etwa Meinungen, soll der Ungebildete genauso viel Gewicht haben wie der Experte? Mehr oder weniger jede Lösung von „alle sollen gleich viel Stimme haben“ bis „Expertendiktatur“ können rational formuliert werden und werden rationale Menschen mal vom einen und mal vom anderen überzeugen.

Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz sind wir nun das erste Mal damit konfrontiert was ein 100% rationaler Geist tut und die Lösungen sind gelinde gesagt erschreckend und werfen die Frage auf, ob die Idee die Rationalität herrschen zu lassen wirklich so klug ist wie uns das die letzten 200 Jahre erschien.

In der Wirtschaft haben wir gelernt, dass rational entwickelte Pläne mit der Realität schlechter klarkommen als ein Haufen Akteure, die sich recht chaotisch verhalten und Dinge aus dem Bauch heraus entscheiden. Der freie Markt findet so gute Preise, wie etwa den gerechten Preis für einen Bleistift, wohingegen Versuche den gerechten Preis eines Bleistifts zu ermitteln sehr rasch absurd komplex wird, weil es schlicht nicht klar ist, wie viel Eisenerz das man für den Eisenbarren, den man für die Säge, die man fürs Umschneiden des Baumes für den Bleistift braucht, wirklich auf Konto des Bleistifts gehen sollte. Es klingt, als sollte es eine einfache Schlussrechnung sein, aber diese Rechnung ist aber absurd komplex und führt nicht zu brauchbaren Lösungen.

Der Mensch bewohnt eine Welt die nicht so rational ist wie wir vor 200 Jahren dachten. Die Welt ist dominiert von Chaos und das Leben hat sich auf eine Art entwickelt, die damit umgehen kann. Der Mensch hat es zur dominanten Spezies nicht über Rationalität gebracht, sondern indem wir alle aus dem Bauch heraus Entscheidungen getroffen haben. Die meisten scheitern aber jene die korrekt geraten haben werden von allen anderen imitiert und so wurden wir besser darin Dinge zu tun. Diese Fähigkeit aus dem Scheitern des Nachbarn zu lernen hat uns zu dem gemacht was wir sind.

Und eventuell ist das der korrekte Ansatz: wir lassen Menschen tun, was sie tun wollen und imitieren die Erfolgreichen. Eventuell ist es Zeit sich von der quasi religiösen Idee eines rationalen Messias, der uns sagt, wie wir besser leben könnten, zu verabschieden und unsere eigene irrationalen Instinkte als das zu sehen was sie sind: ein heuristisches Problemlösungswerkzeug das (kombiniert mit Imitation der Erfolgreichen), in besonders komplexen Systemen, schlicht besser funktioniert als Rationalität, die ihrerseits phantastische Lösungen in überschaubaren und isolierten Bereichen produziert, wie etwa in der Technologie.

Eine Gesellschaft in der wir lieben wen wir lieben, produzieren was wir produzieren wollen, konsumieren was wir konsumieren wollen und glauben was wir glauben wollen scheint nicht nur menschlicher und natürlicher sondern auch erfolgreicher als die Versuche Menschenmassen von Oben nach Unten zu führen.

Ironischerweise wäre es daher rational der verteufelten Irrationalität wieder einen stärkeren Platz in unserer Gesellschaft zuzugestehen.

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Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 08.10.2024 12:37:58

Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 07.10.2024 22:17:28

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