Gerne wird beklagt, dass die Gesellschaft so viele Mitläufer hat. Aber ist das so? Ein gängiges Gedankenexperiment, das seine Anwendung in der Personalführung findet, ist die Idee, dass eine Gruppe aus hundert Menschen die mit einer Aufgabe, aber keiner Hierarchie, versorgt wird sich recht bald wie folgt aufteilt:
Alle warten zuerst darauf, dass jemand sagt was gemacht wird. Irgendwann bildet sich eine Gruppe aus etwa einem Sechstel heraus die beginnt zu organisieren, zu planen und zu managen, Zweidrittel der Gruppe passen sich dieser Situation an und tun was ihnen gesagt wird und ein Sechstel verweigert die Partizipation in der einen oder anderen Art und Weise.
Nimmt man jetzt eine der Subgruppen (Leader, Arbeiter und Verweigerer) und bringt sie in einen neuen Raum mit einer vergleichbaren Situation, passiert wieder das Gleiche: ein Sechstel führt, zwei Drittel führen aus und ein Sechstel sabotiert.
Daraus folgt, dass es „den Mitläufer“ nicht gibt.
In jedem von uns steckt ein Anführer, ein Mitläufer und ein Verweigerer. Je nach Situation werden wir also die Zügel in die Hand nehmen, gezügelt herumlaufen oder versuchen die Zügel abzustreifen. Üblicherweise hängt das damit zusammen ob wir das Gefühl haben „in guten Händen zu sein“. Gegen eine gute, erfolgreiche Führung gibt es seltener Aufstände als gegen inkompetente Führung.
All das macht gruppendynamisch Sinn. Es bedeutet aber, dass wir im Schnitt in Zweidrittel aller Fälle eben Mitläufer sind, nicht aber dass zwei Drittel der Menschen per se Mitläufer wären.
Jeder von uns ist Teilzeitmitläufer. Nicht nur „die Mitläufer“ sind Mitläufer.
Manche mehr, manche weniger aber öfter als nicht unterwerfen wir uns eben der Gruppendynamik und erfüllen Erwartungen anstatt die Erwartungen zu formulieren. Während wir in der Rolle des Mitläufers stecken, werfen wir jenen die nicht mitlaufen verächtliche Blicke zu und reden uns ein dass wir aus eigenen Stücken Anzug und Krawatte tragen und nicht weil es eben eine Norm ist die wir erfüllen.
Es ist nicht der Mitläufer der sich selber einredet, dass das was er da tut das ist was er tun möchte, es sind vielmehr wir alle die laufend verleugnen, dass wir einen Großteil unseres Lebens damit verbringen Erwartungen zu erfüllen, nicht nur zu sagen was „man eben sagt“ sondern es auch zu denken und dabei zu ignorieren dass man gestern noch das Gegenteil von dem gesagt hat was man heute sagt.
In dem Bewusstsein, dass man eben auch so oft nur ein Mitläufer ist, steckt der Schlüssel die meisten Probleme die durch das Mitläufertum eben entstehen, zu bekämpfen. Wenn man akzeptiert, dass man oftmals Dinge macht die man im Grunde beknackt findet, aber auch keinen echten Grund sieht etwas zu ändern, kann man Abweichler einfacher akzeptieren, weil ihr Abweichen einem eben nicht schmerzlich vor Augen führt, dass man gerade auf Autopilot fährt.
Das senkt Gruppenzwänge und gestattet es tatsächlich überholte Muster rascher zu entsorgen oder Normen zu modifizieren oder aber beizubehalten.
Das Problem des Mitläufertums sind dann also nicht die Mitläufer sondern nur der Umstand dass wir uns so oft vorlügen dass wir ja gar keine Mitläufer wären sondern überzeugte, bewusste Akteure die auf Basis von Fakten und Überzeugungen handeln, was aber im Schnitt in zwei Drittel der Fälle wohl gar nicht stimmt.
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