Betrachtet man den politischen Diskurs und seine Entwicklung in den letzten hundert Jahren ist zu beobachten, dass die Konservativen noch immer im Wesentlichen wollen, was sie auch vor hundert Jahren wollten: Sicherheit und Kontinuität. Der linke Flügel hingegen hat sich drastisch verändert. Der Slogan ist zwar noch immer „Gleichheit“, aber der Fokus hat sich, vor allem seit den 70igern, merklich von wirtschaftlicher Gleichheit zu sozialer Gleichheit verschoben.
Die Idee, dass „Alle das haben, was sie brauchen“ ist das absolute Fundament dieser Ideologie aber vor hundert Jahren bedeutete das „genügend Essen und ein Dach über dem Kopf“ heute hingegen bedeutet es „Respekt und Anerkennung“.
Der Grund dafür ist einfach: im westlichen Kapitalismus sind selbst die Armen absurd reich, vor allem wenn man sie mit dem Durchschnitt in einem sozialistischen Land vergleicht oder mit unseren Vorfahren. Kein schwedischer Arbeiter schaut sehnsüchtig nach Kuba oder ins chinesische Mittelalter. Entsprechend überzeugt das wirtschaftliche Argument nur einen sehr spezifischen Teil der Bevölkerung mit atemberaubenden Fähigkeiten im Ignorieren der Welt.
Relative wirtschaftliche Sorglosigkeit beendet aber nicht den Wunsch nach Gleichheit.
Jetzt wo man genügend Essen hat, werden andere Dinge relevant, die Gesellschaft ist kollektiv Maslovs Pyramide nach oben geklettert und ist kollektiv auf der vorletzten Stufe angekommen: Respekt und Anerkennung.
Menschen, die unsicher oder hungrig sind, haben schlicht keine mentalen Kapazitäten für diese Dinge frei. Der Kommunist vor hundert Jahren war Kommunist, weil ihm Dinge versprochen wurden, die er zum Überleben brauchte. Der rezente Kommunist hat diese Sorgen nicht. Für ihn ist aber „bloßes Überleben“ nicht „lebenswert“. Der historische Kommunist fragte sich, warum der Unternehmer mehr Essen hat als er, der rezente Kommunist fragt sich zusätzlich, warum der Unternehmer respektierter ist als er.
Beide finden es unfair, dass sie weniger als andere haben und schlagen eine Welt vor, in der alle gleich viel haben. Der historische Kommunist wollte eine Welt, in der jeder gleich viel Essen hat, der rezente Kommunist will eine Welt, in der jeder gleich viel Wert ist.
Der Grund für die Unterschiede ist aber immer gleich: individuelle Entscheidungen.
Der Gehirnchirurg hat mehr Geld und mehr Respekt, weil er Gehirnchirurg geworden ist. Der Weg dorthin hängt mit Entscheidungen und Leistungen zusammen und ja: auch mit Glück. Wäre er etwa blind gewesen, hätte er den Weg nicht gehen können. Der Umstand, dass er nicht blind ist, ist Glück, gleichzeitig gibt es Blinde, die Gehirnchirurg geworden wären, wenn sie nicht das Pech gehabt hätten, blind zu sein. Ist das fair? Nein. Aber so ist das Leben.
Der moderne Kommunist deutet auf diese Unterschiede, die nur auf Basis von Glück und Pech basieren und verallgemeinert es auf jeden Unterschied: jeder Unterschied zwischen Menschen sei ein Resultat von Glück und Pech, persönliche Handlungen würden keine Rolle spielen und daher sei jeder Unterschied ungerechtfertigt und „ein gerechtes System“ (ie: eines in dem Glück kein Faktor ist) müsse daher sorgen, dass jeder exakt das Gleiche hat und gemeint ist damit nicht auch sondern vor allem: Respekt, Anerkennung und Akzeptanz.
Sich aktiv Respekt zu erarbeiten, ist für den modernen Kommunisten so aussichtslos wie für den historischen das Erarbeiten von Wohlstand. „Sich diese Dinge erarbeiten geht ja gar nicht“, ist heute wie schon damals der Leitspruch.
Der Neider sieht eben nur das Blumenbeet aber nie den Spaten und ohne Spaten geht’s eben nicht. Wer das nicht versteht, tritt auf der Stelle und versteht nicht warum.
In der Realität ist Wohlstand und Respekt, genau wie die Blumen im Beet, recht stark an aktive Handlungen gebunden, die im Resultat nicht mehr zu sehen sind. Der Mythos des alten Geldes ist weniger bedeutend als es den Anschein hat. Natürlich gibt es Familien, deren Reichtum ihren Ursprung in der Vergangenheit hat, aber es gilt zu verstehen, dass das Erhalten dieses Wohlstandes wieder aktive Entscheidungen sind: Erbe verprassen ist einfach, es in die nächste Generation zu tragen, hingegen ist verflixt schwer.
Respekt allerdings ist so gut wie nicht vererbbar.
Paris Hilton mag das Geld ihres Großvaters geerbt haben, aber nicht den Respekt, den man ihm zollte. Familie mit altem Respekt gibt es nicht.
Respekt muss man sich verdienen und man verdient es durch Handlungen, die über das Normale hinausgehen und ob man diese Leistung anerkennt, ist wieder eine individuelle Frage, die jeder für sich selbst festlegen kann.
Und das ist gut so.
Das Wort des erfolgreichen Gehirnchirurgen hat im medizinischen Kongress viel Gewicht. Beim Treffen der lokalen Oldtimerrestaurateure, wo er als interessierter Laie hingeht, ist was er sagt aber bedeutungslos und man wird ihm deutlich weniger Respekt zollen, schlicht weil er in diesem Umfeld eben nicht kompetent und daher auch nicht respektiert ist. Und wie gesagt: das ist eine gute Sache. Man bedenke die Alternative.
Respekt und Anerkennung ist etwas das uns Menschen wichtig ist und dass Menschen „brauchen“ sofern die grundlegenderen Bedürfnisse gedeckt sind. Menschen, die sich aber keinen Respekt verdient haben Respekt zu geben ist noch schwerer als Menschen, die nichts Nützliches tun Dinge zu geben die sie brauchen.
Die Wünsche der alten Kommunisten sind heute weitgehend erfüllt: Überleben ist, dank westlicher Technologie, einfach geworden. Nicht auch, sondern gerade in eher kapitalistischen Ländern.
Die aktuellen Forderungen nach Akzeptanz aller Menschen und aller Lebensweisen und ein Ausbügeln aller Respektunterschiede ist aber völlig eine unerfüllbare Forderung.
Und genau diese Unmöglichkeit der Erfüllung dämmert langsam auch dem Durchschnittsbürger.
Fuu J/unsplash https://unsplash.com/de/fotos/frau-breitet-ihre-arme-aus-r2nJPbEYuSQ