Stirbt die Wahrheit im Informationszeitalter?

Was ist wahr? Vermutlich ist das die älteste Frage der Menschheit, älter noch als die Frage, wo die Welt herkommt und die klassische Antwort ist, dass wir es nicht wirklich wissen können. Die Literatur ist voll mit Werken, die eine Wahrheit suggerieren, nur um dann zu offenbaren, dass alles eine Lüge war und die Welt „in Wirklichkeit“ völlig anders ist.

Der Film Inception (2010) führt die Frage zu seiner logischen Konsequenz, indem er Welten in Welten verschachtelt, was dazu führt, dass wir am Ende keine Ahnung haben, ob wir in der wirklichen Welt sind oder nicht.

In unserer Realität vertreten Anhänger der Simulationstheorie die Meinung, dass wir in einem Computerprogramm sind. Die Logik dahinter ist recht einfach: Wenn wir Realitäten in absehbarer Zeit ausreichend gut simulieren können, was der Fall sein wird, und dann in der Simulation wieder eine Simulation läuft, die die darin existierenden Lebewesen täuscht, was weniger Leistung braucht als die übergelagerte Simulation, ist die Chance, dass wir in der wirklichen Realität sind, extrem klein, sagen wir rund 1 zu 1 Milliarde. Bei so einem Verhältnis ist es daher klüger auf die große Zahl zu wetten.

Die Religiösen hingegen sehen unsere Welt im Wesentlich als einen Aufnahmetest in die wirkliche Welt an. Darüber müssen wir nicht plaudern, aber es sei der Vollständigkeit halber doch erwähnt.

Aber da endet die Misere noch nicht.

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Napoleon wird der Ausspruch zugesprochen, dass Geschichte eine Lüge sei, auf die wir uns geeinigt haben. Wenn Rom etwa beschlossen hätte jeden Hinweis auf Karthago auszulöschen, wüssten wir nichts von Karthago. Wenn Rom stattdessen behauptet hätte, dass an der Stelle an der Karthago stand die Stadt „Hubuki“ gestanden habe, dann „wüssten“ wir heute dass es Hubuki gab.

Auch hier hilft wieder der Film: In Village (2004) wird gezeigt, wie einfach es ist, seine Herkunft extrem zu verschleiern und seine Nachkommen zu täuschen. Wir können die Geschichte nicht überprüfen, also werden wir Lügen aufsitzen. Wer so etwas aus erster Hand erleben will, möge sich ein Geschichtsbuch aus der Zeit der Monarchie schnappen, die Geschichte liest sich da doch anders. Die Französische Revolution wird zu einem Aufstand, die mit der „Wiederherstellung der Kaiserwürde“ korrigiert wird.

Vergangenen Wahrheiten sich also nicht zu überprüfen. Nicht schwierig sondern fast gar nicht, weil alles Fälschungen sein könnten. Das ist schlimm genug, aber es wird noch schlimmer, wenn wir beginnen über Überwahrheiten nachzudenken.

Case and Point: Rotkäppchen. Ist die Geschichte von Rotkäppchen historisch, gab es die Person? Natürlich nicht, aber die Geschichte enthält Wahrheiten: komm im Wald vom Weg ab und du kommst potenziell in erhebliche Schwierigkeiten. Und das ist etwas, das millionenfach passiert ist. Rotkäppchen ist die Destillation aus millionenfach wirklich passiert ist. Die Basis der Geschichte ist also millionfach wahr und die Lektion dahinter ist richtig. Macht das die Sache wahr? Irgendwie schon. Versuche das zu beschreiben finden sich in Douglas Hofstadters „Hypertruth“ oder der Hyperreality der Soziologie. Der Satz „Eine Bowlingkugel die einem auf den Zeh fällt wird weh tun“ ist wahr, auch wenn kein echter Fall damit in Verbindung steht.

Das trifft auf Märchen, Legenden und Religionen zu: alle diese Geschichten sind ausgeschmückte Destillationen von Wahrheit. Das Problem ist hierbei typischerweise nicht der Wahrheitsanteil, sondern die Ausschmückungen und die Neigung mancher Menschen die Ausschmückungen als wahr zu sehen und die hyperwahre Lektion zu übersehen.

All das ist aber eher historisch. Aktuell haben wir das Problem, dass praktisch alles auf das wir unsere Weltsicht stützen sehr einfach gefälscht und unheimlich schnell verbreitet werden kann.

Menschen stützen ihre Weltsicht auf Informationen und Informationen waren früher ein knappes Gut. Ein Wanderer im Mittelalter „zahlte“ seine Unterkunft oftmals mit Geschichten aus der Ferne. Diese Erzählungen waren wertvoll, auch wenn sie nicht völlig akkurat war. Je nachdem wie der Wanderer einem König gewogen war, erzählte er von einer brutalen Eroberung eines kriegslüsternden Schlächter oder von einer mutigen Befreiung durch einen edlen König. Sprich Bias ist nichts Neues und es ist anzunehmen, dass viele der Erzählungen auch damals „Fakenews“ waren aber der Überfluss an Informationen bietet heute jedem die Möglichkeit seine eigene Realität zu bauen.

Im vorher besagten Dorf haben „alle gehört, dass König Horst ein Befreier ist“ und wenn kein anderer Wanderer etwas anders erzählt, dann war das so.

Und auch zur Zeit der Massenmedien war die Realität das, was die Massenmedien sagten.

In den Zeiten der sozialen Medien aber ist die Realität ein Resultat von dem, was man liest und was man ignoriert.

Immer wieder wird argumentiert, dass die Realität stirbt, weil jeder von uns heute am Computer eine Präsidentenrede fälschen und mit zwei Mausklicks Millionen von Menschen in die Irre führen könnte.

Unser mittelalterlicher Wanderer konnte aber das Gleiche erreichen. Und das ist der Punkt an der Sache: wir hatten nie Gewissheit was wahr und was falsch ist. Die Menschen im Mittelalter hatten zb nur die Wahl zwischen zwei Religionen, wenn überhaupt. Wir haben die Wahl zwischen hunderten. Die Wahrheit stirbt nicht, es wird nur offensichtlich, dass „Wissen was wirklich passiert ist“ eigentlich nie wirklich sicher war.

Sprich wir wissen jetzt, im Gegensatz zu den mittelalterlichen Bauern, die dem Wanderer zuhörten, dass das meiste, was uns gesagt wird Unfug ist.

Wir sind also in der Situation zu erkennen, dass unsere Weltsichten auf wackeligen Fundamenten steht, aber ironischerweise sind diese Fundamente stärker als früher wo wir nur eine Quelle hatten der wir alles glaubten.

Was stirbt ist nicht die Wahrheit aber was sterben wird ist die Überzeugung, dass es eine Quelle gibt, die reicht um sich eine Weltsicht zu bilden, egal ob diese Quelle der Priester, der König, die Partei, eine Zeitung oder die Nachrichten sind.

Und das ist eine gute Sache.

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