Vor einigen Jahren saß ich in einem Raum mit meinen damaligen Arbeitskollegen. Einer der älteren Herren, ein stattlicher Mann aus dem Balkan, gestählt im Feuer der Schwerindustrie, nahm plötzlich Strickzeug aus seiner Tasche und begann (ich vermute) eine Socke zu stricken.

Ich war zuerst überrascht fand es dann aber sehr nett dass der harte Stahlarbeiter in seiner Mittagspause strickt.

Seine älteren Kollegen sahen das anders und begannen sich über ihn lustig zu machen. Nachdem sie damit fertig waren darauf zu pochen dass nur Frauen stricken würdem begannen sie sich gegenseitig damit zu übertreffen was sie alles nicht könnten würden.

Der eine sagte stolz dass er noch nie eine Waschmaschine aufgedreht hätte, der andere sagte das sei gar nichts, er wisse natürlich nicht wie eine Waschmaschine zu betreiben wäre aber auch den Geschirrspüler habe er noch nie benutzt und so weiter und so fort.

An dieser Stelle warf ich ein dass ich das komisch finde weil ich persönlich nicht stolz darauf bin etwas nicht zu können. Auch ich kann einige Dinge nicht, aber ich bin nicht stolz darauf dass ich sie nicht kann.

Die Reaktion auf meinen Einwurf erstaunte mich ehrlich gesagt etwas denn die harten Industriearbeiter sahen für einen Moment erschrocken aus, wechselten dann aber in Windeseile das Thema. Mehr Zustimmung konnte man sich als Bürohengst von den Schwerarbeitern dieser Generation nicht erhoffen.

Dennoch, der alte Mann strickte nie wieder im Pausenraum.

Ich fand das schade.

Diese Geschichte ist jetzt schon recht lange her aber sie lässt mich nicht ganz los. Die Frage die mich in dem Bezug beschäftigt ist ob es Dinge gibt bei denen man stolz sein sollte dass man sie nicht kann. Aus dem Bauch heraus ist es einfach das zu bejahen aber wenn man genauer darüber nachdenkt macht es einen erheblichen Unterschied ob man etwas kann und es dann auch tut.

Ich kann etwa theoretisch Menschen mit meinem Auto zu überfahren, weil ich Autofahren kann und die eine Fähigkeit sehr eng mit der anderen zusammenhängt. Das ist aber kein Grund zur Schande weil ich es ja nicht tue.

Etwas Gefährliches zu können ist also eher unproblematisch, solange man es nicht tut. Daraus folgt dass im Grunde nichts das man kann schlecht sein sollte.

Der harte Stahlarbeiter ist nicht "mehr Mann" weil er nicht Wäsche waschen kann, er ist einfach jemand dem eine sehr nützliche Fähigkeit fehlt. Er ist damit weniger als er sein könnte.

Dennoch hatte er das Gefühl dass sein Unwissen ihn zu einem besseren Mann macht.

Eine ähnliche Beobachtung zeigt sich auch anderswo. Vor rund 5 Jahren war das Schmähwort des Mainstreams gegenüber den Querdenkern „Putinversteher“. Die Logik ist hier wieder die Gleiche: wenn man Putin versteht dann sei man schlecht.

Das war und ist Unsinn.

Ich verstehe auch warum Mao getan hat was er tat, dennoch lehne ich seine Handlungsweisen entschieden ab. Etwas zu verstehen bedeutet nicht dass man zustimmt.

Ich verstehe auch halbwegs warum der politische Mitbewerb so denkt wie er denkt. Ich verstehe Veganer, Kommunisten oder Ethnonationalisten aber ich finde ihre Schlussfolgerungen falsch, eben weil sie unvollständig sind und die Unvollständigkeit entstammt der gleichen Logik die die alten Männer hatten: der Idee dass man besser und reiner ist wenn man das das „die anderen tun“ nicht kann, nicht versteht und auch nicht verstehen will.

Genauso wie der harte Mann eben kein besserer Mann war weil er nicht Stricken kann, ist der Ideologe nicht reiner nur weil er niemals Schriften anderer Ideologien gelesen hat.

Im Gegenteil: beide sind wenige, bleiben hinter ihrem Potential zurück und suhlen sich schlicht in ihrer Ignoranz.

Man kann nicht zu viel Wissen haben und auch nicht zu viel Verständnis denn nur mit Wissen und Verständnis kann man wirklich kritisieren.

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