Von ideologischen Passagieren und ihren Kapitänen

Auf Schiffen gibt es üblicherweise mehr Passagiere als Kapitäne. Einer sagt wohin die Reise geht. Das ist der Kapitän. Die anderen fahren mit. Das sind die Passagiere.

Der Passagier hat kein echtes Mitspracherecht wohin die Reise geht. Er betritt das Schiff und ist ab dem Zeitpunkt Teil des Systems „Schiff“ und geht dort hin wohin das Schiff eben geht.

In den meisten Fällen geht der Passagier an Bord weil er irgendwo hin will und der Kapitän ankündigt dass er genau dorthin fährt. Jemand der nach New York will, wird nicht auf ein Schiff steigen das nach Bosten fährt. Er will ja nach New York.

Wenn der Kapitän dann aber kurz vor Ende der Reise plötzlich statt New York plötzlich Bosten ansteuert, dann wird der Passagier in Bosten landen. Er kann brüllen, schreien, fordern, klagen oder drohen. Aber er wird in Bosten landen.

Ideologien sind ähnlich. Sie sind wie Schiffe die von sehr wenigen, oftmals charismatischen, Figuren gelenkt werden und die Mehrzahl der Passagiere vertraut eben darauf dass sie der Kapitän dort hin bringt wo sie hin wollen. Das Problem ist aber dass diese ideologischen Reisen nicht Wochen dauern. Sie dauern Generationen und das Ziel ist oftmals, rational betrachtet, völlig unerreichbar.

Die Mehrzahl aller Anhänger irgendwelcher Ideologien, Religionen, Weltbilder und philosophischer Schulen werden auf ihren Schiffen geboren. Sie suchen sich nicht aus „was sie sind“ sondern sind was ihre Eltern waren.

Der typische Passagier hat also nicht wirklich eine aktive Entscheidung getroffen. Er setzt eben eine Tradition fort. Eine Freundin beschrieb das mit den Worten „Ich bin katholisch und im Winter warm angezogen“ und eine andere beschrieb es mit „Wir Moslems gehen weiß rein und weiß raus, vom Initiationsgewand bis zum Leichentuch“.

Beide sehen das als alternativlos an, glauben aber nicht an ihre Götter. Sie könnten das Schiff wechseln, tun es aber nicht weil sie ja „Teil“ davon seien.

Aus genau dieser Alternativlosigkeit entsteht aber gewaltige Macht für den kleinen Personenkreises der auf der Brücke des Schiffes steht (ie: die Führung).

Wenn es den Passagieren am Ende des Tages ohnehin völlig egal ist wohin die Reise (wirklich) geht kann die Reise überall hin gehen und der Kapitän hat Carte Blanche bei der Kurswahl.

Meiner katholischen Freundin ist völlig egal ob der Papst das Fegefeuer abschafft oder wieder neu einführt und teilt damit die Meinung fast aller Katholiken: der Papst soll eben machen wie er glaubt, „is eh wurscht“. Und es ist egal, da der Papst eben nicht mehr seine Inquisition herumschicken kann um seine Ideen durchzuboxen.

Ideologien hingegen haben diese Möglichkeit. Alles was sie tun müssen ist Parteien zu gründen um dann an sehr reale weltliche Macht zu kommen.

Wie meine pseudoreligiösen Freunde denken auch meine pseudopolitischen Freunde in Mustern von „wir und die“, eingebettet in Alternativlosigkeit. Man wurde eben in eine Familie geboren die glaubt dass Marx eine geniale Analyse des Kapitalismus geschrieben hätte, weil das eben das ist was der Vater sagt.

Was das bedeutet ist unerheblich, das Bedeutsame ist ja nur, dass man auf dem richtigen Schiff sitzt und in die richtige Richtung fährt. Das Ziel ist „zum Guten“ und das „Wie“ ist eben Sache der „Leute die sich damit besser auskennen“ also der Leute die oben auf der Brücke stehen und die Entscheidungen treffen (ie: die Führung, die Partei, die Führerin).

Das Resultat sind Weltmeere die von unzähligen Schiffen besiedelt sind die munter mit Kanonen aufeinander schießen, sich böse Worte zurufen während sie umeinander zirkeln und langsam im Kreis fahren. Keine Ideologie erreicht ihr Ziel weil ihre Kapitäne ständig den Kurs wechseln, oftmals um Orte zu erreichen von denen keiner so genau weiß ob es diese überhaupt gibt.

Die Katholische Kirche etwa versprach ein himmlisches Königreich das die Gläubigen noch erleben würden. In den Römerbriefen beschwerten sich aber dann die Mitglieder dass das alles ein wenig lange dauert und viele der ersten Anhänger schon an Altersschwäche gestorben sind und fragten höflich wann die Kirche gedenkt ihr Versprechen einzuhalten. „Bald“ sagte die Kirche und das sagt sie noch immer. Das End ist jetzt seit über 2000 Jahren "nahe".

Diverse utopische Ideologien versprachen das Gleiche und vertrösten genauso weil sie das was sie versprachen einfach niemals werden liefern können. Dennoch haben ihre Schiffe Passagiere und das nicht zu knapp. Und diese Passagiere sind der festen überzeugung dass das Ziel in greifbarer Nähe wäre.

Fakt ist dass man als Teil einer Bewegung sehr viel wahrscheinlicher Passagier als Kapitän sein wird und der Umstand dass man Teil der Bewegung ist macht einen nicht zum Spezialisten im Bezug auf die Bewegung.

Man kann auf einem Schiff sein und keine Ahnung haben wohin es fährt. Genauer gesagt ist es sehr viel wahrscheinlicher dass der Passagier absolut keine Ahnung hat auf welchem Kurs das Schiff gerade ist. Der typische Christ ist weniger bibelfest als der durchschnittliche westliche Atheist und der durchschnittliche Sozialist hat weniger Marx gelesen als die Kritiker des Sozialismus.

Die bedeutende Frage ist aber eben ob wir die Ideologien überhaupt brauchen. Die Ideologie und die Religion sagen "ja", denn ohne sie würden wir ertrinken.

Was aber wenn das Meer unter diesen Schiffen gar keines ist?

Was wenn wir ohne Probleme darin laufen und leben könnten?

Was wenn dieses Chaos da unter uns alles ist was es gibt?

Was wenn die Schiffe Blendwerk sind die uns niemals an die Orte bringen können die uns die Kapitäne versprechen?

Was wenn die Kapitäne nicht unsere Retter sind sondern uns davon abhalten über Bord zu springen und die Schiffe hinter uns zu lassen, schlicht weil sie ihre eigene Macht über uns erhalten möchten? Was wenn die Ideologien, Parteien, Kirchen und so weiter uns nicht schützen sondern zurückhalten?

Was würde passieren wenn wir unsere Leben in die eigene Hand nehmen würden? Wie wäre eine Welt in der die Mehrzahl nicht Passagiere wären sondern Kapitäne ihrer selbst?

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