Das Irrationale zu Ende denken?

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Mag sein. Aber sie schafft Erinnerung. Und sie wirft Fragen auf. Die Suche nach den Antworten kann vor Wiederholung bewahren. Eine dieser Fragen scheint heute aktueller denn je: Was passiert, wenn Machthaber aus irgendwelchen tiefenpsychologischen Gründen ganz offensichtlich aus der inneren Balance geraten sind und vom rationalen Rest der Welt nicht ernst genommen werden?

Die Erinnerung an eine „Witzfigur“, von der viele lange Zeit glaubten, dass sie mit „dieser Stimme“ und diesem Auftreten nie und nimmer als „Führer“ geeignet sein werde, ist nicht verblasst. Sie mag in jüngster Zeit banalisiert worden sein, was aber nichts an der Personifizierung des „Bösen“ ändert, woran anfangs viele nicht glauben mochten – und dies dann mit dem Leben bezahlt haben. Ein Clown, nicht mehr! Es werde schon nicht so schlimm kommen,  hieß es damals oft. Es kam.

Was also kann passieren, wenn Machthaber nicht ernst genommen werden? Wir erleben es gerade im Konflikt Europa mit Russland. In einer neuen Sicherheitsdoktrin, verordnet vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, wird die Nato als der Hauptfeind Russlands definiert. Vor 25 Jahren in der Euphorie des Falls von Eisernen Vorhang und Berliner Mauer hätte kaum jemand geglaubt, dass es wieder so weit kommen wird.

Im Augenblick scheint es so, als sei der neue kalte Krieg, ausgelöst durch die Krise in der Ukraine, eine direkte Folge der Unfähigkeit des Westens, seine Handlungen zu Ende zu denken. Die EU hätte Putin ernst nehmen, ihn in ihr Werben um die Ukraine einbinden, gemeinsame Wege suchen müssen. Es werde schon nicht so schlimm kommen, klingt heute wie ein Echo aus der Vergangenheit.

Wer kann das schon behaupten? Man muss die Binsenweisheit, dass die Welt heute anders, die Abhängigkeit der Staaten voneinander viel intensiver sei, gar nicht wiederholen. Auch unter ganz anderen Vorzeichen können Machthaber zu irrationalen Handlungen neigen, wenn sie sich real gedemütigt fühlen oder sich diese Demütigung nur einbilden oder sie für ihre nationalen Zwecke ausnützen.

Die Welt ist 2014 aus den Fugen geraten, gewiss. In Russland ist Putin unberechenbar geworden. In der Türkei stehen die Anzeichen auf Größenwahn, Rücksichtslosigkeit, Machtfantasien von der Wiedererrichtung des Osmanischen Reichs und auf Unterdrückung. Ist Recep Tayyip Erdogan aus der Balance geraten? Etliche seiner Aussagen in letzter Zeit deuten darauf hin. Und was würde das geopolitische bedeuten? Der Islamische Staat wiederum wird von einer Gruppe von Wahnsinnigen und Fanatikern bestimmt und kostet tausenden das Leben. Clowns alle? Wohl kaum.

Aber wir können uns in Europa keinesfalls auf den Hochstand unserer angeblichen moralischen Überlegenheit zurück ziehen – und behaupten: Hier nicht und hier nie mehr. Es ist mehr als beunruhigend, dass die ersten offiziellen Reaktionen auf die Demonstrationen des Vereins „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Padiga) in Dresden darauf hinausliefen, sie ja nicht ernst zu nehmen. Ein generell ausländerfeindlicher, speziell islamfeindlicher Spuck der wieder vorüber gehen wird? Ein solches Missverständnis hatten wir in Europa schon einmal. Sicher, die Demokratie in Deutschland ist heute stärker, aber wie schnell sich die Rahmenbedingungen ändern können haben wir gerade in diesem abgelaufenen Jahr erfahren.

Oder die Passivität, mit der die EU Viktor Orban in Ungarn fuhrwerken lässt. Enteignungen innerhalb der EU? Na wenn schon! Aufwallender Antisemitismus? Wird sich schon legen. Rabiater Nationalismus innerhalb der EU? Da sei Brüssel vor. Eben nicht.

Und da ist mangels irgendeiner substanziellen Kenntnis der Fakten nicht einmal noch die Schreibe von Nordkorea und Kim Jon-un.

Und wieder drängt sich die Frage auf, vor der Europa im letzten Jahrhundert schon einmal gestanden ist: Um welchen Preis beruhigen sich die Rationalen in einer bestimmten gegebenen historischen Situation selbst und wiegen sich in falscher Sicherheit, weil sie das Irrationale nicht zu Ende denken wollen?

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