Stellen Sie sich vor, es gäbe eine „rote Linie“ und keiner sieht sie. Bleibt sie unbeachtet, kann es für den normalen Bürger wirklich gefährlich werden. Eine solche taucht in Österreich in letzter Zeit immer wieder auf, ist aber offenbar noch zu schwach für die allgemeine Aufmerksamkeit.

Gemeint ist die Tendenz, aus politischen Gründen Einzelpersonen öffentlich anzugreifen. Vergangene Woche war sie unschwer in der Rede von Innenminister Herbert Kickl im Nationalrat zum Thema Sicherheit zu erkennen. Blieb aber weitgehend unbeachtet. Das ist ziemlich beunruhigend. Kickl hat seine Rede im Ton des Parteisekretärs und nicht des Regierungsmitglieds gehalten. Möglicherweise hat er angesichts des Mikrofons und der Redezeit auf seinen Rollenwechsel vom oppositionellen Einpeitscher zum Bundesminister für alle Österreicher vergessen. Jedenfalls hat er sich weniger dem Sicherheitsgefühl, subjektiv oder real, aller Österreicher gewidmet, denn einzelnen Abgeordneten in den Reihen der SPÖ, deren Verhalten im Ausschuss und persönlichen Eigenschaften. Vielleicht hat sich Kickl auch vom anhaltenden Applaus seiner Fraktion und Gelächter in immer mehr Attacken hinein gesteigert und so vergessen, dass er an der Regierungsbank gestanden ist und nicht am Pult für Oppositionscharfmacher.

Diese Taktik, Einzelpersonen öffentlich abzukanzeln und der Lächerlichkeit preis zu geben, hat schon Jörg Haider in den neunziger Jahren angewandt. Seither weiß man auch, dass Rechtspopulisten im Fall des Falles es nicht bei Angriffen auf „öffentliche“ Personen bewenden lassen, wenn es ihren Zielen dient. Wenige werden sich noch daran erinnern, wie Haider in einer ORF-Pressestunde einen Lehrer aus Oberösterreich einmal – fälschlicherweise – als Alkoholiker „geoutet“ hat. Mehr werden sich an seinen Angriff auf Ariel Muzikant erinnern: Wie könne denn einer mit dem Namen Ariel so viel Dreck am Stecken haben. Das Copyright für diesen Sager war damals Kickl zugeschrieben worden.

Wie auch immer, der Wahnsinn hat Methode. Nicht nur in Österreich. In Ungarn ließ Viktor Orban schon fast ein Jahr vor der letzten Wahl den US-Milliardär Georg Soros auf überdimensionierten Plakaten entlang der Autobahnen und Schnellstrassen diskreditieren – inklusive eines antisemitisch karikierten Konterfeis. Die Angriffe auf Soros steigerten sich im Wahlkampf zum Crescendo – mit Erfolg offenbar. Schon im letzten Herbst wunderte man sich angesichts der flächendeckenden Aufstellung des Prangers über die öffentliche Indifferenz. Jeder kann bei dieser Methode der nächste sein: Heute Soros, morgen Sie?

Und daran fand der Klubchef der FPÖ, Johann Gudenus, in einem Interview mit der „Presse“ offenbar Gefallen: „Er hat mit viel Kapitalmacht versucht, alle möglichen Umwälzungstendenzen in Osteuropa zu finanzieren.“ Offenbar zählt auch die Förderung von Demokratieprozessen und einer liberalen Gesellschaftsordnung durch Soros’ „Open Society“ für Gudenus zu negativen Umwälzungstendenzen – ungeachtet der Tatsache, dass Orban davon seinerzeit per Studium in Cambridge davon profitiert hat.

Und Gudenus spricht weiter von „stichhaltigen Gerüchten“, wonach Soros der „Vater“ der Massenimmigration nach Europa ist, diese unterstütze und befördere. Nicht der Krieg in Syrien, nicht die Lage im Irak oder Afghanistan ist dafür verantwortlich, sondern die Absicht des Juden Soros massenhaft Moslems nach Europa schleusen zu lassen, wie Gudenus meint. Auf dass der Antisemitismus in Europa wieder ansteigt, worauf sich viele am rechten Rand nun ausreden wollen, um ihren eigenen Antisemitismus zu kaschieren? Der Mann, Gudenus nämlich, ist Klubchef einer Regierungspartei in Österreich. Das sollte man nicht vergessen. Während Bundeskanzler Sebastian Kurz am Mittwoch nur meinte, er „schätze“ solche Angriffen auf Soros „nicht“, bekam Gudenus volle Rückendeckung von Vizekanzler Heinz Christian Strache und bei anderer Gelegenheit auch von Infrastrukturminister Norbert Hofer – nach dem Motto: Das wird man wohl noch sagen dürfen.

Wenn dem so ist, dann wird man wohl auch sagen dürfen, dass die Begründung von Gudenus, es gebe „stichhaltige Gerüchte“ und an anderer Stelle, es gebe „stichhaltige und sich verdichtende Gerüchte“ für jede Diffamierung einzelner Personen herhalten kann. Dann wird man auch fragen dürfen, wie Gudenus selbst auf „stichhaltige Gerüchte“ über seine Person reagieren würde. Von verdichtenden ganz zu schweigen.

Doch um Gudenus geht es gar nicht. Es geht darum, die Aufmerksamkeit auf eine politische Taktik zu lenken, der man rechtzeitig in die Parade fahren sollte. Rechtzeitig bevor es zu spät ist. Wenn es nämlich (wieder) Schule macht, mit Gerüchten Menschen zum Schweigen zu bringen, sie an den öffentlichen Pranger zu stellen - im Zeitalter der sozialen Medien tausendfach vervielfältigtbar - dann ist niemand, kein normaler Bürger mehr davor gefeit.

Dann kann es auch Sie treffen! Es soll nur niemand glauben, es ginge ihn nichts an.

kellepics/pixabay

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