Der Kommission, die dem Wiener Lungenfacharzt Gernot Rainer die Verlängerung seines Dienstvertrags am Otto-Wagner-Spital verweigert hat, gebührt aufrichtiger Dank! Sie hat nämlich in einem unbeabsichtigten Augenblick der Entscheidung den Blick durch ein Fenster freigegeben, hinter dem es sich völlig ungeniert lebt, nachdem der Ruf ohnehin ruiniert ist. So scharf war das bisher nicht zu sehen.
Ob die Begründung der Ablehnung der Vertragsverlängerung durch eine Kombination von dumm und dreist zustande gekommen ist oder durch die Tatsache, dass jene, die sie aufgeschrieben haben – „Mangel an Identifikation mit den Gesamtinteressen der Stadt Wien“ – ihre Bedeutung gar nicht erkannt haben, ist nebensächlich. Man sollte sich freuen, dass es passiert ist. Denn nur durch solche glücklichen (!) Zufälle wird deutlich, wie Verantwortliche in Wien ticken, was sie glauben, sich erlauben zu dürfen, und wie eingeschränkt ihr Horizont ist.
Hätte irgendjemand in der Kommission den Überblick gehabt, er hätte wissen müssen, dass man
a) dem betreffenden Arzt nicht gleichzeitig die beste Dienstbeschreibung (hohe Lernbereitschaft, aktives Eingehen auf die psychischen und physischen Bedürfnisse der Patienten, überdurchschnittliche Belastbarkeit, ausgeprägtes analytisches Denkvermögen und sicheren Blick für das Wesentliche) ausstellen und die Vertragsverlängerung verweigern kann.
b) nicht damit argumentieren kann, die von ihm gegründete Askelepios-Gewerkschaft sei nur ein Verein, nachdem auch der Österreichische Gewerkschaftsbund nur ein Verein ist.
c) die ärztliche Leiterin des Otto-Wagner-Spitals, Barbara Hörnlein, als Ehefrau des Wiener Bürgermeisters Michael Häupl nicht in die hochpolitische Causa involvieren kann, ohne sich dem Verdacht parteipolitischer Einflussnahme auszusetzen.
Es ist schwer vorstellbar, aber dennoch offensichtlich, dass es in der Kommission im Bemühen, einen kritischen Arzt loszuwerden, zu einem eingeschränkten Denkvermögen gekommen ist. Denn nichts anderes bedeutet die Begründung der mangelnden Identifikation mit den Gesamtinteressen der Stadt Wien.
Womit sollte sich der Arzt denn stärker identifizieren?
- mit den Missständen und Verschwendungen bei den Wiener Linien, die eben vom Rechnungshof aufgezeigt wurden?
- mit der Kostenexplosion beim Neubau des Spitals Nord?
- mit dem eigenartigen Immobiliendeal bei der Wiener Semmelweißklinik und dem Verdacht auf Geldwäsche?
- mit dem geplatzten Immobiliendeal und den Millionenverlusten für den KAV durch Rückabwicklung von Verträgen beim Otto-Wagner-Areal?
- oder gar mit den Zuständen in manchen Wiener Kindergärten, denn auch die berühren das Gesamtinteresse der Stadt Wien?
- oder soll er sich womöglich mit jenen zwei Sozialwohnungen identifizieren, die der Leiter des Krankenanstaltenverbunds, Udo Janßen, für sich beansprucht hat bis sie publik geworden sind?
Die Liste kann von jedem Interessierten beliebig fortgesetzt werden.
Und umgekehrt: Beeinträchtigt der Mangel an Identifikation mit den Gesamtinteressen der Stadt Wien die Fähigkeit des Arztes, seinen Patienten die best mögliche medizinische Betreuung zukommen zu lassen? Wären seine Therapien erfolgreicher, wäre die Identifikation stärker? Könnte er den Erkrankten besser helfen?
Erstaunlich ist nur, dass nach Bekanntwerden der Kündigung des Vertrages für Gernot Rainer nicht alle Ärzte der Gemeindespitäler (besser noch: alle der Wiener Spitäler), die dienstfrei hatten, nicht vor dem Ratshaus im Protest aufmarschiert sind. Nicht nur aus Solidarität für einen Arzt mit ausgezeichneter Dienstbeschreibung, sondern auch aus reinem Eigennutz: mangelnde Identifikation mit irgendwas kann jedem/jeder von ihnen jederzeit aus jedem fadenscheinigen Grund vorgeworfen werden. Mit einer solchen Begründung kann jeder/jede mundtot gemacht werden. Verstehen die Ärzte nicht, welchen Druck auch sie einmal ausgesetzt werden können? So viel Feigheit unter Akademikern ist schon verblüffend.
Weniger erstaunlich das Schweigen der Grünen im Rathaus. Sie haben ihre früheren Kernkompetenzen wie Protest, Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie etc. beim Rathaus-Eingang schon vor Jahren abgegeben. Ob sich die Bundespartei dafür geniert, ist nicht überliefert.