Sie sind also weg. Sie haben „österreichischen Boden“ verlassen. Sie, das sind unter anderen die „bestens integrierte“ tschetschenische Familie Tikaev mit vier Kindern. Sie, das ist der „bestens integrierte“ tschetschenische Sportler Junadi Sugaipov. Am Dienstag wurden sie von Wien nach Moskau abgeschoben.
Eigentlich hätte sich dieser Eintrag mit den Seltsamkeiten der Regierungsbildung in Deutschland befassen sollen; mit dem Realitätsverlust des glücklosen SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz, der von einer SPD-Regierung mit CDU/CSU faselt; mit dem aufgeregten Jubel der Medien über die Rede von SPD-Fraktionsführerin Andrea Nahles am SPD-Parteitag in Bonn und damit, dass diese Medien offenbar aus den Flops aller bisherigen Hypes nichts gelernt haben, wie der Absturz von Schulz aus ihrer Gunst binnen kürzester Zeit bewiesen hat.
Ja, das hätte eigentlich das Thema sein sollen. Doch dann kam die Jubelmeldung aus dem Innenministerium: „Österreich führte 31 russische Staatsangehörige nach Russland zurück“, die an „die Behörden in Moskau übergeben werden konnten.“ Aus der Aussendung des Ministeriums war der Stolz über die „erste Charteroperation“ in diesem Jahr (unter FPÖ-Führung des Ressorts) herauszulesen. Und dann kamen die vielen Stellungnahmen, aus denen eindeutig hervorgeht: Der Rechtsstaat in Österreich Ermessenssache.
Es haben sich in Österreich viele Menschen bemüht, die Abschiebung der Familie Tikaev und des zweifachen Staatsmeisters in Taekwondo Sugaipov zu verhindern. Die Familie lebte sieben Jahre in Österreich, der Sportler zwei Jahre in Bad Gastein. Nachbarn, Lehrer, Bürgermeister – alle bezeugten die gelungene Integration. Noch mehr protestierten gegen die Abschiebung.
Der Generalsekretär der Caritas Wien, Klaus Schwertner, ist in einem langen Eintrag auf facebook um Ausgewogenheit bemüht - in der Frage, soll die Familie Tikaev abgeschoben werden oder nicht. So schreibt er unter anderem: „Das komplizierte daran ist leider, dass es auf diese vermeintlich einfache Frage aus meiner Sicht keine einfache Antwort gibt. Auch wenn sich meine Timeline auf facebook relativ einig ist: NEIN, soll sie nicht. Und es sich der Mainstream in so manchen vermeintlich patriotischem Internet-Forum auch ist: JA, schiebt sie endlich ab! Die schlechte Nacht: Es ist komplizierter. Ich glaube, das tragische an dem Beispiel der Familie T. ist, dass es uns das Versagen unseres aktuellen Asylsystems und der weitverbreitenden fremdenfeindlichn Stimmung im Land so deutlich macht. Und einer traumatisierten und bestens integrierten Familie mit kleinen Kindern schmerzvoll den Boden unter den Füßen wegzieht.“
Für das Innenministerium ist, so steht es in der Aussendung, alles klar: „Bei den im Rahmen der Charteroperation rückgeführten Personen handelt es sich ausschließlich um Personen, bei denen die Zulässigkeit einer Rückführung in allen Fällen in einem rechtsstaatlichen Verfahren umfassend geprüft wurde. Es wurden dabei ausschließlich Personen rückgeführt, deren Asylverfahren rechtskräftig negativ abgeschlossen wurde und die somit verpflichtet waren, das österreichische Bundesgebiet zu verlassen.“
Von den Anträgen auf humanitäres Bleiberecht, die zum Zeitpunkt der Rückführung noch nicht entschieden waren, wurde nichts gesagt. Dazu aber schreibt Schwertner: Ein Bleiberechtsantrag habe keine aufschiebende Wirkung auf eine bevorstehende Abschiebung. Wozu ihn dann entgegen nehmen?
Und das ist der Punkt, warum mir das Asylthema wichtiger ist als die Regierungsbildung in Deutschland: Seit mehr als 25 Jahren, seit der großen Flüchtlingswelle aus dem zerfallenden Jugoslawien und einer ersten Welle aus Nordafrika, hatten alle Regierungen und die gesamte Bürokratie Zeit, ein klares Asylrecht zu schaffen und für rasche Entscheidungen zu sorgen. Bei der ersten Welle in den neunziger Jahren konnte man Ungereimtheiten im Umgang mit dem Fremdenrecht (so hieß das damals) noch verstehen. Die entsprechenden Abteilungen waren mit Beamten besetzt, die anderswo nicht zu verwenden waren. Dementsprechend fielen die Entscheidungen aus – oder jahrelang eben nicht. Damals schon wurden Verbesserungen im bürokratischen Ablauf versprochen.
Aber das ist ein Vierteljahrhundert her. Zehn Jahre ist es her, dass der Fall von Arigona Zogay in Österreich so großes Aufsehen erregt hat. Damals wurde - wie heute – die geplante Abschiebung mit dem „Rechtsstaat“ begründet. Wer erinnert sich nicht noch an die damalige Innenministerin Maria Fekter? Arigona Zogay und ein Teil ihrer Familie erreichten mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit das Bleiberecht. Und heute weiß Außenministerin Karin Kneissl im Fall der tschetschenischen Familie auch nicht anders zu reagieren: „Der Ausgang eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist zu akzeptieren“.
Ja schon, was aber ist, wenn dieses rechtsstaatliche Verfahren vom Gutdünken oder Willkür, von der Empathie oder Ausländerfeindlichkeit einzelner Beamter abhängt? Schwertner auch dazu: „Das Vorgehen der Behörde, zuerst nichts zu tun und den Antrag nicht zu bearbeiten und zu prüfen und dann ohne Interview die Außerlandesbringung zu versuchen, ist äußerst fragwürdig. . .“
Es kann doch nicht sein, dass es in 25 Jahren der Justiz und dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, Rechtssicherheit herzustellen; dass in einem Vierteljahrhundert nicht überprüft worden ist, welche Behörde wo besonders säumig ist und welche effizient arbeitet; dass ein Grundrecht davon abhängt, ob eine Behörde rasch oder indifferent arbeitet; dass der Eindruck entsteht, das Unklare, das Vage, das Verwirrende in den Asylgesetzen ist Absicht. So können sie leichter zu Ungunsten der Asylwerber ausgelegt werden.
Es kann doch nicht sein, dass der Rechtsstaat in Österreich Ermessenssache ist. Er wurde bei Arigona Zogay beschworen, er wurde bei der Familie Tikaev ins Treffen geführt. Einmal fand man einen humanitären (Aus)Weg, einmal nicht.
Spätestens jetzt sollten sich alle kenntnisreichen Rechtswissenschaftler zu Wort melden und vor der offenbar willkürlichen Anwendung des berühmten „Rechtsstaates“ warnen. Wo waren sie eigentlich all die Zeit, in denen das Fremdenrecht im Halbjahrestakt abgeändert, verschärft, verschleiert wurde? Wo war ihr Aufschrei, dass ein Rechtsstaat ohne Rechtssicherheit nicht viel wert ist?
Wahrscheinlich ist die Reaktion darauf jetzt: Trifft ja nur die Ausländer, trifft ja nur die Asylwerber. Uns trifft es ja nicht. Doch wer will das wissen? Rechtsunsicherheit kann in einer bestimmten politischen Konstellation von jedem missbraucht werden. Rechtsunsicherheit kann jeden treffen. Das ist nicht schwer zu verstehen, oder?
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