Die Zeit des Ausverkaufs in den Geschäften und Kaufhäusern ist da und damit die Zeit der fokkusierten Rücksichtslosigkeit: Da wird gerempelt und geschimpft, vielleicht sogar an dem einen oder anderen Stück gezerrt. Diese Rücksichtslosigkeit, eigentlich eine Hemmungslosigkeit, ist hier aber gar nicht gemeint. Sondern drei Varianten der ganz alltäglichen Anmaßung von Macht, ohne dass sich die meisten Menschen darüber im Klaren sind – hoffentlich jedenfalls.
1. Die Rücksichtslosigkeit mit der Lebensgeschichte: Sie kennen diesen Menschentyp sicher. Er oder sie steht an der Kino- oder Geschäftskasse, bei einem Schalter im Amt oder in der Post. ER/sie hat den Drang, dem Gegenüber fast die ganze Lebensgeschichte zu erzählen oder zumindest die akute Befindlichkeit. Es kümmert ihn oder sie keineswegs, wie lange die Schlange der Wartenden ist. Sie plaudern einfach weiter. Da kann man nicht von der üblichen Gedankenlosigkeit sprechen, sondern von der Lust an der geheimen Macht: Jetzt bin ich dran und wie lange Ihr wartet, ist mir gleichgültig.
Alte Menschen sind davon ausgenommen. Für alte Menschen ist so ein Kontakt im Geschäft etc. oft die einzige soziale Interaktion am Tag. Dafür muss man Verständnis haben. Aber nur dafür.
2. Die Rücksichtslosigkeit mit der Zeitlupe: Sie kennen diesen Typ sicher auch – aus der Bank und von Ämtern. Er unterscheidet sich von den Lebensgeschichtenerzählern dadurch, dass er wahrscheinlich noch stärker die Macht über Wartende ausnützt. Provokant langsam verstaut er nach Erledigung der Angelegenheit die Habseligkeiten, ordnet vielleicht noch Papiere, kramt in Taschen und gibt keinesfalls den Weg frei für den Nächsten, obwohl zwei Schritte zur Seite die Sachen auch nicht in Unordnung bringen würden: Er ist jetzt dran, es ist sein Platz und seine Entscheidung, wann er ihn freigibt.
Im Vergleich dazu ist die Zeitlupen-Macht einiger Mitarbeiter in den Ämtern ja geradezu verständlich. Sie legen provokant langsam Papiere von einer Seite zur anderen, stehen auf, gehen aufreizend bedächtig irgendwohin, würdigen die „Bittsteller“, eigentlich ihre Arbeitgeber, keines Blickes, plaudern vielleicht auch noch auf dem Weg zurück zum Schreibtisch, nur um zu zeigen, wer hier die wirkliche Macht hat.
Umgangssprachlich würde man sagen: Typ 1 und 2 glaubt sich im Besitz des Schlüssels zum Klo – und damit im Besitz der Macht, zu entscheiden, wer es benützen darf und wer nicht. Sehr umgangssprachlich, gewiss, aber zutreffend.
3. Die Rücksichtslosigkeit mit dem Sitzfleisch: Sie kennen sie sicher von den öffentlichen Verkehrsmitteln, gleichgültig wie alt Sie sind.
Drei Szenen der letzten Wochen frischen Ihre Erinnerung auf. Da war einmal die junge Frau, die auf einem für Kinderwagen reservierten Plätze saß. Eine junge Mutter mit Kleinkind und Kinderwagen steigt zu, bittet die junge Frau höflich, ihr den Platz zu überlassen. Die Antwort fiel denkbar knapp aus: „Nein!“ Die junge Mutter glaubte, sich verhört zu haben. Noch ein Versuch, noch eine Antwort: „Nein!“ Um keinen Streit zu beginnen, gibt die junge Mutter auf. Die junge Frau bleibt ungerührt sitzen. Sichtbar schwanger war sie nicht. Wenn doch, hätte sie es erklären können. Aber darum ging es offenbar nicht, sondern um heimliche Machtausübung.
Dann war da eine Schulklasse von etwa Zehnjährigen mit drei Begleitpersonen. Der Wagen war voll, viele Erwachsene standen. Die Zehnjährigen hatten alle Plätze belegt. Über zahllose Stationen hin fiel es keiner der drei Begleitfrauen, die sich angeregt miteinander unterhielten, ein, einige Kinder aufzufordern aufzustehen. Sie kamen offenbar gar nicht auf die Idee, ihren Schützlingen auf diese Weise vielleicht soziales Verhalten zu vermitteln. Das Beste, das man den Begleitpersonen zugute halten kann: Sie könnten befürchtet haben, eines der Kinder könnte sich in der fahrenden Straßenbahn verletzen und sie würden dafür verantwortlich gemacht werden. Wahrscheinlich aber ist, dass auch ein Mangel an Manieren als Zumutung für andere auch eine gewisse Art von Machtausübung ist.
Und da war schließlich jene übervolle Straßenbahn am Wiener Ring mit vielen jungen Österreichern. Als einziger bietet ein junger Mann mit starken Ost-Akzent zusteigenden Erwachsenen unverzüglich seinen Platz. Vielleicht haben sich wenigstens ein paar Österreicher in dem Wagen geschämt, dass jemand, den sie sonst abfällig „Ausländer“ nennen, ein besseres Benehmen an den Tag legte als sie selbst.
Seit vielen, vielen Jahren ist dieses Rätsel ungelöst: Kennen all diese Menschen den Machtfaktor der Rücksichtslosigkeit nicht oder tun sie nur so? Aufklärung erbeten!
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