Der verdächtige Legastheniker

Die Initiative „Jedes Kind hat Talent“  erhält offenbar viel Unterstützung. Und das ist gut so. Aus fast jedem sozialen Netzwerk lacht Dir irgendjemand mit einer entsprechenden Tafel entgegen. Das ist auch gut so. Nur wenn es sich dabei um Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch Hosek (SPÖ) oder Staatssekretär Harald Mahrer (ÖVP) handelt wird es irgendwie skurril. Denn Heinisch Hosek Aufgabe wäre es, dafür zu sorgen, dass sich „jedes Kind“ im österreichischen System auch ganz ohne Aufforderung einer Initiative entwickeln könnte und Mahrers Aufgabe wäre es, im Namen der ÖVP auf Heinisch Hosek genügend Druck zu machen.

Also reden wir darüber, dass jedes Kind Talent hat, das es entfalten können muss. Und dann reden wir darüber, dass es viele Kinder gibt, die zwar Talent, aber auch eine Lernschwäche haben. Es ist oft die Begabten. Und wie geht unser Schulsystem damit um?

Ein Anschauungsbeispiel wieder im Zusammenhang mit der unsäglichen Zentralmatura 2015, wobei nicht die Zentralmatura per se unsäglich ist, ganz im Gegenteil, sondern ihre österreichische Organisation. Also wie ist das mit „jedem Kind“? Vor kurzem tauchte die Meldung auf, dass Maturanten mit Lese- und Rechtschreibschwäche, also Legastheniker, ein Rechtschreibprogramm verwenden dürfen.

Einmal abgesehen davon, dass Rechtschreiben oft das geringere Problem für Legastheniker ist als die Schwäche, lange Texte sinnerfassend in einer bestimmten Zeit lesen zu können, gab es prompt Einwände gegen die „Vergünstigung“ eines Rechtschreibprogramms:  Atteste über Legasthenie könnten ja auch gefälscht, gekauft, missbraucht werden, hieß es im Lager der Schulpsychologen. Man habe schlechte Erfahrung. Und überhaupt kann es da zu einer Diskriminierung kommen, weil finanzstarke Eltern sich einen solchen Attest beschaffen könnten, einkommensschwache aber nicht.

Das kommt einem Generalverdacht gleich.  Diese Geisteshaltung ist erschreckend, entsprich aber irgendwie der österreichischen Denkweise: Erstens muss alles über einen Kamm geschert werden, Flexibilität macht nur Arbeit. Zweitens müsse alle in eine Schublade gesteckt werden, denn wo käme man denn hin – wenn man die Schwächen jedes talentierten Kindes berücksichtigen müsste. So viel zu den Taferln  mit „Jedes Kind hat Talent“.

Mit dieser Einstellung kann man die Bildungslaufbahn von leseschwachen, aber meist sehr intelligenten, Jugendlichen nachhaltig schädigen. Schulpsychologen müssten eigentlich wissen, dass Legastheniker bei aller Mühe in einer Stresssituation und unter Zeitdruck nicht fähig 12 Seiten total sinnerfassend zu lesen. So lange aber ist dem Vernehmen und einigen Medienberichten nach allein die Angabe bei der Mathematikmatura. Insgesamt, so stand zu lesen, sollen die Angaben für die Zentralmatura 120 Seiten umfassen.

Und wie reagiert das Ministerium der alle talentierten Kinder unterstützenden Ressortchefin darauf? Hat sie sich über die „best practice“ in anderen Ländern informiert, die im Bezug auf den Umgang mit Lernschwächen nicht wie Österreich den Status eines unterentwickelten Landes haben? Nur einige Beispiele: Dort wird Legasthenikern die doppelte Prüfungszeit zur Verfügung gestellt, eben weil sie für das Lesen der Angaben oder die richtige Schreibweise mehr Zeit benötigen. Dort wird den ganz schweren Fällen die Möglichkeit eingeräumt, alle Prüfungen mündlich abzulegen. Dort werden den betroffenen Schülern auch die Angaben als Audio-Material zu Verfügung gestellt. Und übrigens nicht nur an den Schulen, sondern auch an den Universitäten.

In Österreich aber mit seiner grundlegend positiven Einstellung (Vorsicht: Ironie) wird nur über möglichen Missbrauch und nicht über mögliche Unterstützung nachgedacht. Wer nicht ins Schema passt, hat dort eigentlich keinen Platz. Eigentlich ein Hohn, von Talentförderung zu sprechen.

Heinisch Hosek sollte sich weniger um Taferln und mehr um die Schulwirklichkeit kümmern. Dass es ihre beiden Vorgängerinnen, Elisabeth Gehrer und Claudia Schmidt,  auch nicht getan haben, ist keine Ausrede.

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