Das war sie also, die wochenlang gehypte große Rede von SPÖ-Chef Christian Kern in der Welser Messehalle Mittwoch Abend. Aber was war sie? Der Paukenschlag? Die Überraschung? Das mea culpa, die Entschuldigung des Parteichefs bei den Wählern, weil die SPÖ sie im Stich gelassen habe? Eine Trauerrede auf SPÖ und Sozialdemokratie? Die Vision des Bundeskanzlers für das Österreich der Zukunft? Die Bestandsaufnahme? Der Neustart der rot-schwarzen Koalition für die nächsten Monate? Zwei Stunden lang.
Von allem etwas – auch in der Ausführung. Aber stellen wir Inhalt vor Form. Da war viel Richtiges dabei, manch Griffiges wie der „Moonshot“, das hochgesteckte Ziel, der politische Griff nach den Sternen also auch. Da war Altbekanntes dabei und viel, das schon längst erledigt hätte werden können. Da war Konkretes dabei und einiges, wofür Kern und die SPÖ nach 2020 vielleicht nicht mehr die Verantwortung übernehmen wird müssen. Da waren einige Nebelgranaten dabei und viel Ernsthaftes.
Aber stellen wir Konkretes vor Überschriften. Der radikalste und mutigste Vorschlag kam gegen Ende der zwei Stunden: Eine Reform des Wahlrechtes, die der stärksten Partei automatisch „Bonus-Mandate“ und die Mehrheit im Nationalrat geben würde, auf dass sie ohne Partner die Regierung bilden könnte und nur für Verfassungsgesetze mit Zweidrittel-Mehrheit Verbündete suchen müsste. Radikal deshalb, weil sich für ein entsprechendes Gesetz wohl mit den anderen aktuellen Parteien keine Verfassungsmehrheit finden wird lassen. Es wollen ja alle, ÖVP, Grüne und FPÖ Regierungspartner sein – für wen immer. Mutig deshalb, weil nach dem jetzigen Stand der Umfragen der FPÖ die Regierung „automatisch“ zufallen würde. Vielleicht war es aber auch ein Vorschlag per Chuzpe, weil er zwar radikal und mutig klang, aber ohnehin keine Aussicht auf Verwirklichung hat. Das wäre dann die stärkste Nebelgranate gewesen. Schade!
Konkret war auch die neuerliche Ankündigung, bis 2020 mindestens 200.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das wäre – so wie die versprochene Energiewende – ein Plan, dessen Realisierung, versehen mit einem Termin, man dann überprüfen könnte. Oder die Streichung eines Drittels der derzeit üppigen Regulierungen bis 2020. Nur wen wird man dann zur Verantwortung ziehen, wenn er nicht realisiert worden ist, nachdem diese Legislaturperiode nur noch längstens bis 2018 geht? Oder die Jobgarantie für alle Arbeitnehmer über 50? Wie soll sie aussehen, wie organisiert und finanziert werden? Oder der Generalkollektivvertrag für einen Mindestlohn von 1.500 Euro – möglicherweise per Gesetz durchgesetzt, wenn er nicht mit dem Sozialpartner Wirtschaft zu machen ist?
Manche anderen, weniger konkreten Ansagen, klangen tatsächlich wie der Plan der Mondlandung, den Kern als Beispiel zitierte, wie unmöglich Erscheinendes doch realisiert werden kann – mit Einsatz und Zielsicherheit: Der totale Umbau der Verwaltung, die radikale Reform des Föderalismus – angedacht schon vor mehr als zehn Jahren und seither in der Schublade jeder Regierung verschwunden. Wenn die Bundesländer nicht wollen, nutzt eben gar nix! Das weiß auch Kern. Aber Ziele wird sich ein Bundeskanzler ja wohl setzen dürfen. Wenn Kern auch nur einen seiner Moonshots verwirklicht, wäre schon mehr getan als in den letzten Jahren.
Die inhaltliche Bilanz fällt deshalb gemischt aus, weil Kern nicht klar getrennt hat: Was will er konkret mit dem Koalitionspartner ÖVP 2017 erledigen, was genau muss er auf die Zeit nach der nächsten Nationalratswahl verschieben. Es wäre ein leichtes Unterfangen und besser überprüfbar gewesen: Deregulierung, Mindestlohn, flexiblere Arbeitszeiten, Rahmenbedingungen für Österreich als Gründernation, Ganztagsschulen, neuerliche Verschärfung des Asylrechts unter dem Banner der Sicherheitspolitik – das ginge sich vielleicht alles noch aus. Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Wahlrecht, Umbau der staatlichen Strukturen, Energiewende – sicher nicht.
Kommen wir zur Form: Wer immer die Idee hatte, diese Rede wie eine Road Show zu inszenieren und sie zwei Stunden in die Länge zu ziehen, ist sein Beraterhonorar nicht wert. Fast ausschließlich frei zu reden und sich nur fallweise das geschriebene Wort anzusehen, mag in Österreich schon als Kunst angesehen werden. Es ist aber mit Sicherheit keine packende Redekunst. Der Laufsteg, der ständige Griff zum Wasserglas, das alles zeugte nicht von professioneller Inszenierung. Training mit einem Teleprompter wäre da erfolgreicher gewesen. Er vermittelt den Eindruck freier Rede und verhindert den Eindruck der Beiläufigkeit, der durch das Spazieren über die Bühne entsteht. Warum jemand wie Kern dieses technische Hilfsmittel nicht einsetzt, auch wenn sonst kaum jemand in Österreich damit umgehen kann, ist unerklärlich?
Wer immer die Idee hatte, Kern eine Rede a la Barack Obama einzureden, ist ebenfalls das Coaching-Geld nicht wert oder hat nie die Reden des scheidenden US-Präsidenten analysiert. Kern griff zu einem Stilmittel, das amerikanische Politiker eindrucksvoll beherrschen: Bürger als Zeugen für die Richtigkeit ihrer Vorhaben aufzurufen. Es wirkte nicht. Erika, Lisa, Renee aus Judenburg! Ihre Geschichten hat Kern sicher nicht erfunden, aber sie wirkten gekünstelt. Auch der Bezug auf seine Herkunft, dem Wiener Bezirk Simmering, verfehlte wie Wirkung wie sie Obama mit seinem Verweis auf die „south side“ von Chicago, den unterprivilegierten Teil der Stadt, noch in jeder Rede, zuletzt bei seinem Abschied Dienstagnacht, erzielt: Die unausgesprochene Ehrfurcht vor Leistung und sozialem Aufstieg. Das muss man können oder bleiben lassen.
Kern ist ein besserer Rhetoriker als er in Wels war. Er hätte sich, der SPÖ, der Regierung und dem Land einen besseren Dienst erwiesen, hätte er eine kompakte, empathische Rede mit weniger Distanz zu sich selbst gehalten – und im übrigen auf seinen 150 Seiten Plan „A“ verwiesen.
Pathos muss man eben richtig vermitteln können.