Das war einmalig. So etwas wäre in Deutschland nicht vorstellbar. Und das Entscheidende hat nicht einmal mit dem neuen Obmann der ÖVP, Sebastian Kurz, viel zu tun. Es hat ausschließlich mit der Traditionspartei ÖVP, einer der Gründungsparteien der Zweiten Republik, etwas zu tun. Sie hat am Samstag beim 38. Ordentlichen Bundesparteitag in Linz der Demokratie in diesem Land einen Schlag versetzt, dessen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind.
In welchem Zustand muss diese Partei sein, um sich das gefallen zu lassen, was da in Linz ablief? Nicht die türkise Inszenierung als solche ist damit gemeint, sondern die Tatsache, dass die Änderung der Statuten und ein Leitantrag ohne jede Debatte darüber, ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit beiden per Handaufheben beschlossen wurden. Nicht ein einziger Delegierter, nicht eine einzige Delegierte hat sich gegen dieses Schnellverfahren ausgesprochen und eine Debatte verlangt.
Nach dem Besuch von mehr als gefühlten 100 Parteitagen in vier Jahrzehnten kann mit einiger Gewissheit behauptet werden, ein solches Schauspiel an Selbstkastration einer Partei hat es noch nie gegeben. Gut, bei der ÖVP war es immer schon (schlechte) Tradition, jeden Obmannwechsel euphorisch zu feiern, den Saal mit geschwellter Brust zu verlassen, den Führungsanspruch zu stellen – alles bis zur nächsten Niederlage. Aber noch nie, nicht einmal bei jenen Parteitagen, an denen man geradezu panisch Einigkeit demonstrieren wollte/musste, lief dieses Schauspiel ohne Wortmeldungen ab. Genau vor zwei Jahren, als sich die ÖVP unter Reinhold Mitterlehner ein neues Parteiprogramm und ein neues Statut verpasste, kam es zu erstaunlicher Offenheit und zu Kontroversen.
Vielleicht saß der Schreck, mit seinem Antrag auf Änderung des Wahlrechts, dort Schiffbruch erlitten zu haben, Kurz noch so in den Knochen, dass er jede Debatte verbot. Damals musste er sich von Andreas Khol sagen lassen, dass ein Vorschlag – Mehrheit der Mandate minus einem automatisch für die stimmenstärkste Partei - ein "heisser Eislutscher" sei. Aber das hätte nicht Grund genug für die erschreckende Servilität der Delegierten sein dürfen.
Aber wie gesagt, Kurz ist beim Thema Demokratie und ÖVP nicht die Hauptfigur. Es war das Verhalten der ÖVP-Funktionäre, das sprachlos machte. Das wirklich „Neue“ an der neuen ÖVP sollte die Allmacht des Obmanns sein. Darauf wurde so viel Wert gelegt, dass die ÖVP Zentrale sich noch am Tag davor in einem Extraschreiben bemüßigt fühlte, gesondert darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig diese Änderungen sind:
Der Bundesparteiobmann kann mit eigener Liste kandidieren, die von der Volkspartei unterstützt wird und für andere Personen, die nicht Parteimitglied sind, offen ist.
Durchgriffsrecht auf die Listen
Kompetenz zur Erstellung der Bundesliste für Nationalratswahlen.
Erstellung der Landes- und Regionallisten im Einvernehmen mit dem Bundesparteiobmann, dem im Zweifelsfall ein Vetorecht zukommt.
Entscheidungskompetenz für die Bestellung des Regierungsteams der Volkspartei sowie der Generalsekretäre.
Chancengleichheit von Frauen und Männern durch ein Reißverschlusssystem auf allen Listen. Über den tatsächlichen Erfolg entscheiden die Wählerinnen und Wähler mittels Vorzugsstimmenmodell – wer mehr Stimmen hat, wird vorgereiht.
Inhaltliche Vorgaben zur Positionierung der Volkspartei durch den Bundesparteiobmann.
Und dazu sollte keine(r) der 478 Anwesenden irgendeine Meinung gehabt haben? Vom Inhalt des Leitantrages ganz zu schweigen.
Wenn sich dann am Sonntag Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner in der ORF-Pressestunde dazu hergegeben hat, die Statutenänderung mit Hinweis auf „mehr Gemeinsamkeit“ zu verteidigen, was an sich bei der Ausstattung des Obmanns mit mehr Machtfülle ein eigenartiges Argument ist, dann weiß man, was es demokratiepolitisch in der ÖVP geschlagen hat.
In der Parteitagsregie hatte man nicht einmal die Sensitivität, eine Scheindebatte zu zulassen. Und niemand protestierte gegen das Procedere: Ein Zeichen mit der Delegiertenkarte, das ist einstimmig, angenommen, danke, setzen! Was war das eigentlich? China? Nordkorea?
Auf die Rede des designierten Obmanns hätten die Delegierten auch noch warten können: Sie enthielt nichts, was man – es kann nachgelesen werden – nicht von Mitterlehner und allen ÖVP-Obmännern zuvor auch schon gehört hätte. „Das mit dem Menschenbild habe ich dem Mock schon seinerzeit in seine Reden geschrieben“, murmelte ein ÖVP-Veteran danach.
Schlanker Staat? Ja, eh! Eigenverantwortung? So wie so! Führungsanspruch? Unbedingt! Land verändern? Wieder einmal!
Halt! Ganz gerecht ist das nicht. Denn obwohl Kurz in seiner gefällig vorgetragenen Rede, in der es rhetorisch viel Luft nach oben gab, auch keinen neuen wirklich starken Akzent setze, so zeigte er doch „Mut auszusprechen was Sache“ ist: „Wenn ich mir die Situation in unserem Land so anschaue, dann habe ich das Gefühl, dass es dringend notwendig ist, damit aufzuhören, die Dinge schön zu reden. Wir sind Weltmeister im Weiterwursteln und Schönreden geworden.... Hören wir auf damit, unsere Probleme schön zu reden und sagen wir lieber, was wirklich Sache ist.“
Was aber in dem Zusammenhang wirklich Sache ist, sprach Kurz nicht an: Die ÖVP kam vor genau 30 Jahren wieder in die Regierung, blieb dort ohne Unterbrechung – wird wohl am Schönreden und Weiterwursteln nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Das Land, das sich Kurz also jetzt so „anschaut“, ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten ÖVP-Mitherrschaft.
Es wird spannend werden, zu beobachten, wann die in Linz anwesenden Funktionsträger der Traditionspartei ÖVP erkennen werden, was da Sache war: Ein Tiefpunkt der Demokratie, der innerparteilichen sowieso, aber auch der allgemeinen. Wenn sie es je überhaupt bemerken werden.
Sie haben ja nicht einmal bemerkt wie grotesk es war, jemandem tosenden Applaus zu schenken, der sie gerade in seiner Abschiedsrede als einen Haufen von knieweichen Intriganten hingestellt hat: Reinhold Mitterlehner.
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