Eine Frage beschäftigt mich schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Ich habe noch immer keine schlüssige Antwort gefunden. Vielleicht findet sich hier in den Reaktionen eine.

Österreich ist ein so kleines und so schönes Land mit – im Vergleich zu anderen Regionen auf dieser Welt – so richtig herzigen Pipifax-Problemen. Es ist ein überschaubares Land. Problemlösungen sind sicher keine Raketenwissenschaft. Ursachenforschung ist aufgrund der Kleinheit und Überschaubarkeit relativ einfach. Und dennoch: Immer wieder tun alle von der Politik abwärts so, als müsste man die Welt oder zumindest das Rad neu erfinden; als läge die Lösung eines Problems nicht schon lange dort, wo man sie in früheren Zeit ad acta gelegt hat. Von jeder neuen Herausforderung sind wir immer aufs Neue so überrascht als würden wir auf einer Endlosschleife, die sich immer in die gleiche Richtung bewegt, plötzlich eine neue Tür entdecken. Woran also liegt diese Nachlässigkeit? Woran also liegt diese Funktionsschwäche?

Als aktuelles Beispiel dient das geplante Verbot der Bundesregierung, mit dem Asylwerbern untersagt werden soll, während der Wartezeit auf einen Bescheid, in Lehre in Österreich zu beginnen. Dieses Verbot ist die Reaktion auf den Widerstand gegen die Abschiebung von abgelehnten Asylwerbern während einer Lehre. Plötzlich wird jetzt wieder als Alternative von der berühmten Rot-Weiß-Rot- Card gefaselt. Sie wurde vor sieben (!) Jahren eingeführt, um sogenannte Schlüsselkräfte und Arbeitnehmer in Mangelberufen ins Land zu holen. 8.000 jährlich hochqualifizierte Kräfte wollte man so nach Österreich locken. Diese Regelung war wiederum in Anlehnung an die US „greencard“ und ähnliche Bestimmungen in Kanada erfunden worden – beides Einwanderungsländer was Österreich ja nie sein wollte und will. Auch sie war jahrelang zuvor diskutiert worden bis man sich endlich dazu durchgerungen hat.

Funktioniert hat das System nie. Statt der 8.000 Arbeitskräfte jährlich gab es nie mehr als 1.600 Anträge (2016). Das lag zum Teil an den restriktiven Bestimmungen wie Einkommensnachweis in einer bestimmten, prohibitiven, Höhe oder der extrem kurze Gültigkeitsdauer von 12 Monaten. Zum anderen Teil lag es aber auch an überlangen Bürokratieverfahren. Ausgewiesene Spitzenkräfte verloren die Geduld und suchten sich einen geeigneten Arbeitsplatz in einem anderen Land. Evaluiert wurde das Scheitern der Rot-Weiß-Rot-Karte nicht. Offenbar zerbrach sich in sieben Jahren niemand den Kopf über die Gründe.

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, die aber in Österreich kommentarlos zur Kenntnis genommen wird, dass Bundeswirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer plötzlich merkt, dass er den Mangel an Fachkräften unterschätzt hat. Der Mann war immerhin drei Jahre Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und danach sechs Monate selbst Minister. Und jetzt also: Oh, es gibt einen Fachkräftemangel.

Und es entbehrt auch nicht einer gewissen Pikanterie wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz nun ausgerechnet während eines Besuches in Singapur bemerkt, dass man die Rot-Weiß-Rot Card reformieren sollte, weil man ja auf „qualifizierte Zuwanderung“ setzen sollte. Von dieser ist mindestens seit den neunziger Jahren die Rede. Nun, die Erzählung der aktuellen Koalitionsregierung könnte ja sein: Alle Vorgänger-Regierungen seien eben Versager gewesen und die jetzige allein in der Lage, alle Probleme zu lösen. Dumm nur, dass die ÖVP in allen diesen Vorgänger-Regierungen den Wirtschaftsminister gestellt hat. Dumm auch, dass Zuwanderung immer auch eine Frage der Integration ist. Für diese war in den letzten Jahren sogar Kurz persönlich zuständig.

Wie gesagt, man könnte versuchen, den Wählern diese Versager-Erzählung zu verkaufen. Sie trifft nur das Problem nicht. Die Ursachen müssen tiefer liegen, denn die Endlosschleifen ziehen sich auch durch andere Bereiche.

Wiederum aus aktuellem Anlass: In der Affäre um das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und die als unrechtmäßig erkannten Hausdurchsuchungen durch eine gerichtliche Instanz bringt jetzt wieder den Generalstaatsanwalt ins Gespräch. Auch darüber wurde in den vergangenen Jahren aus gegebenen Anlässen immer wieder diskutiert. Die Idee wurde hin- und hergewälzt, ausführlich erörtert, und verschwand dann wieder. Zu einer gültigen Schlussfolgerung kam man nie, geschweige denn zu einer Entscheidung. Es ist als wäre der österreichische Nationalsport in der Politik, immer wieder tote Pferde zu besteigen und zu versuchen, mit ihnen durch das Land zu reiten. Woran liegt das?

Da lasse ich jetzt einmal unerwähnt, dass es in Wien seit den siebziger Jahren einen Schulversuch zur Einführung der Ganztagsschule gibt. Er wurde nie evaluiert. Offenbar hat man darauf vergessen, weshalb mit dieser Schulform nach wie vor Politik gemacht werden kann. Die Ganztagsschule bleibt ein Reizwort. Dabei hätte man in den vergangenen Jahrzehnten längst eine Bewertung des Schulversuchs vornehmen können. Der Rest wäre eine politische Entscheidung. Oder hätte sie sein müssen. So aber konnte der Bildungssprecher der ÖVP, der Mathematiker Rudolf Taschner, erst vor wenigen Tagen in einem Interview seine total veraltete Sicht der Dinge von sich geben. Das ist 2018, möchte man ihm zurufen. Wie viel von den gesellschaftlichen Veränderungen hat Taschner mitbekommen, wenn er heute sagt: „Zudem bin ich gegen die Idee, dass der Staat die Aufgabe der Kindererziehung übernimmt...“

Das war die ideologische Argumentation der siebziger Jahre: „Die Ganztagsschule als Regelschule würde bedeuten, dass man den Eltern bei der Erziehung misstraut. Und das will ich nicht.“ Wo lebt der Mann? Schon etwas von alleinerziehenden Eltern gehört? Etwas von Patchwork-Familien? Etwas von den noch so vertrauenswürdigen Eltern, die das Leben der Familie mit einem Gehalt allein nicht mehr finanzieren können – vor allem nicht, wenn sie ihren Kindern jede Art von außerschulischer Förderung zukommen lassen wollen – aber nicht nur dann. Schon etwas davon gehört, dass Kinder mit Migrationshintergrund in einer Ganztagsschule punkto Sprachentwicklung und Deutsch mehr gefördert werden als in der muttersprachlichen Umgebung zu Hause?

Also lassen wir die endlosen Schleifen rund um die Ganztagsschule einmal beiseite und versuchen Antworten auf die Frage: Woran liegt es, dass immer die gleichen Dinge immer wieder aufs Neue diskutiert werden?

Vielleicht daran – mit der Bitte um Ergänzung:

An einem extrem kurzen kollektiven Gedächtnis. Die Bevölkerung vergisst einfach darauf, Lösungen einzufordern, weshalb sie sich mit immer den gleichen Überraschungen zufrieden gibt. Vielleicht sogar an einem gewissen Aufmerksamkeitsdefizit. Oder an Desinteresse an komplexeren politischen Themen, das die Politik in die Lage versetzt, Altem immer wieder einen neuen Anstrich zu geben.

An den Medien, die an Nachhaltigkeit kein Interesse haben und immer sofort – wie es in der Branche umgangssprachlich heißt – die nächste „Sau durchs Dorf treiben“ wollen. Sie hätten zum Beispiel schon vor Jahren auf eine Reform der Rot-Weiß-Rot Card drängen müssen – und sich jetzt mit Hinweis darauf dem Überraschungscoup entziehen müssen.

An dem großen Missverständnis in Österreich, reden für tun zu halten. Wenn wir ein Problem nur lange genug zerreden ersparen wir uns, es zu lösen. Das gilt für die Politik wie die Gesellschaft.

An der extrem kurzen Halbwertszeit in der Politik. Ankündigung gilt als Aktivität, mit Worten rettet man sich über die nächsten Wahlzyklus hinweg. Um die Lösung sollen sich die nächsten kümmern.

Oder liegt es am Versagen der Politikwissenschaft in Österreich, die zu Sachthemen keine Entscheidungsgrundlagen vorlegt – und so die Entscheidungsschwäche mangels öffentlichen Diskurs fördert?

Gewiss, auch anderswo bleiben Fragen unbeantwortet, Probleme ungelöst, aber die Unverfrorenheit, in regelmäßigen Abständen mit immer den gleichen Antworten aufzuwarten und sie als große neue Erkenntnisse zu verkaufen, ist schon eine österreichische Spezialität.

Was die Rot-Weiß-Rot Card betrifft, so liegt es wahrscheinlich daran, dass man sich vor einem stimmigen Einwanderungsgesetz drücken wollte – und will.

Hans / pixabay

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