Selbst jemand, der wie ich seit etwa 30 Jahren Sterbebegleitung bei der ÖVP macht – Remission 2002-2006 inklusive – lassen die Vorgänge in dieser Partei in den letzten Tagen etwas fassungslos zurück. Wie oft war vom Todestrieb der ÖVP, von Neustart, von Neugründung, von Selbstmord – mit oder ohne Anlauf – geschrieben worden?
Nach all dem muss man sich das jetzt erst einmal vorstellen: Ein Landesparteichef dekretiert seine Nachfolge ohne auch nur den Schein der innerparteilichen Demokratie zu wahren. Selbst die Landespartei hatte nichts mitzureden. Dann verfügt er, wer neuer Innenminister wird, ohne die Bundespartei zuvor auch nur zum Schein damit zu befassen. ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner hat den niederösterreichischen Landesrat einfach zur Kenntnis zu nehmen und so zu tun als hätte er ihn ausgesucht oder gewollt.
Und dann wählt der besagte Landesparteiobmann für seinen regionalen Putsch gegen die Bundespartei ein Timimg, das den Parteichef, den Parteikandidaten für die Hofburg, den Wahlkampf und die Gesamtpartei schwer beschädigt. Sollte Mitterlehner für die nächste Zeit eine Strategie gehabt haben, etwa die Turbulenzen in der SPÖ um Werner Faymann und in der Wiener Landespartei taktisch für die ÖVP auszunützen, Erwin Pröll hat sie zunichte gemacht. Zyniker könnten meinen, er habe damit seinem Freund, Wiens Bürgermeister Michael Häupl, zu Hilfe eilen und aus der zu erwartenden Bredouille helfen wollen.
Doch eine derartige Vorgangsweise hat in der ÖVP Tradition, was auf einem systemimmanenten Hang zur Selbstbeschädigung schließen läasst: Der Koalitionspartner SPÖ ist in Schwierigkeiten und die ÖVP hilft ihm mit noch größeren eigenen Problemen zeitgleich aus der Patsche. Seit dem neuerlichen Eintritt in die Regierung mit der SPÖ 1986 nach 16 guten Jahren als immer stärker werdende Opposition ist das so in regelmäßigen Abständen. Tiefenpsychologisch und gruppendynamisch könnte man eine von zwei Möglichkeiten annehmen:
1. Die ÖVP bestraft sich kollektiv unterbewusst dafür, dass sie – erst 1970 und dann wieder 2006 – die Macht verloren hat, indem sie alles tut, um diese nicht wieder erlangen zu können.
Oder:
2. und wahrscheinlicher: Sie hat im Gesamtsystem – Bundesländer, Bürokratie, Interessensvertretungen – ohnehin die Vormachtstellung behalten, auf dass sie leichtfertig den Gestaltungsraum auf Bundesebene vernachlässigen kann. Sie weiß, dass ihr die FPÖ zwar dort gefährlich werden kann, aber nie in den anderen Bereichen. Das scheint vielen Landespolitikern, Bündeobmännern und anderen Funktionären zu genügen.
Wie zum Hohn für eine staatstragende Partei, für die sich die ÖVP noch immer hält, gab Pröll der gesamtpolitischen Mini-Bedeutung seiner eigenen Regierungsumbildung eine „staatspolitische“ Bedeutung, die diese nicht hat. Und es regte sich kein Widerspruch.
Das sei ja alles Sache einer politischen Partei auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit, kann man einwerfen. Eben nicht.
Vom Grundsatz her bedarf Österreich einer politischen Partei vom Zuschnitt der ÖVP. Vom Wesen der Republik seit 1945 her auch. Die politische Landschaft wäre um einen wesentlichen Teil ärmer und niemand, der Stabilität, Berechenbarkeit, Balance in diesem Land will, kann ein Verschwinden der ÖVP herbeiwünschen.
Warum sie sich aber selbst von ihrem Niedergang nicht aufhaltet – siehe Wiener ÖVP im einstelligen Prozentbereich bereits angelangt – ist mysteriös. Schicksalhaft ist die Reduzierung des politischen Angebots, die Polarisierung als Konsequenz dieser Reduktion nicht.
Als „Kraft der Mitte“ sah sich diese Partei einst. Und die liegt mit Sicherheit nicht in St.Pölten. Eine Partei schafft sich gerade selbst ab. Kein Grund zur Schadenfreude.
Pavol Frešo https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Erwin_Pröll_-_2015.jpg