Emotionale Misshandlung

Über physische Gewalt gegen Kinder herrscht immer Aufregung.  Völlig zu Recht. Es wäre schlimm, wenn nicht. Wir sollten uns aber AUCH über die psychischen Verletzungen aufregen, die Erwachsene Kindern zufügen. Nicht an Stelle. Nicht besser. Sondern AUCH.  Über die Alltagsverletzungen, die jeder von uns im öffentlichen Raum – sei es in den öffentlichen Verkehrsmitteln, sei es auf der Strasse, in den Parks oder in den Volksschulen – beobachten kann, regt sich kaum jemand auf. Wir müssten dann unsere Einstellung zum Kind generell reflektieren.

„Sei nicht so blöd“, „Halt endlich den Mund“, „Rede nicht so dummes Zeug“, „Sei endlich still“:  Immer wieder kann man in Wien sehen und hören, wie Eltern ihre Kinder auf diese demütigende Weise maßregeln, wenn diese oft harmlos vor sich hin plappern oder einfache Fragen stellen. Maßregeln ist entschieden das falsche Wort. Sie demütigen die Kinder, setzen sie herab, verletzten ihr Ich-Gefühl, schüchtern sie ein – und keiner sagt etwas. Irgendwie gilt das nicht als Verletzung, was da gerade mit einer kleinen Kinderseele passiert.

Niemand schreitet ein und sagt: „So können Sie mit dem Kind nicht reden“.  Ein Kind aber, das in ganz jungen Jahren immer wieder hört, es sei dumm, ein Trottel, zu dick oder zu hässlich und überhaupt nicht wert, dass man ihm zuhöre und/oder es ernst nehme, wird irgendwann zu einem gebrochenen Menschen.  Auch wenn es später im Leben alles richtig macht und anstandslos funktioniert.

Zerstörtes Selbstbewusstsein, angeschlagenes Selbstwertgefühl, Ich-Schwäche sind alles Folgen dieser Verletzungen, die oft für andere nicht erkennbar sind. Deshalb regt sich auch niemand auf, riskiert niemand eine Konfrontation mit den betreffenden Erwachsenen. Auch wenn man dann in noch so traurige Kinderaugen schaut.  Auch ich krieg oft in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr heraus als ein verhaltenes „Wie können Sie nur?“

Auch der Umgang mit Kindern am Anfang ihrer Schullaufbahn, also in den Volksschulen, wird nicht öffentlich thematisiert. Kinder mit der Lernschwäche Legasthenie werden die Verletzungen, die ihnen deshalb in den Schulen zugefügt werden, oft nie mehr los. Als dumm abgestempelt, können sie sich noch so bemühen, die Punze bleibt  – obwohl später in Österreich als anderswo angeordnet wurde, auf Legasthenie Rücksicht zu nehmen und  der Lernschwäche in der Beurteilung Rechnung zu tragen.

Bis Legasthenie diagnostiziert wird, vergehen im besten Fall Monate, im schlimmsten Fall Jahre. Bis dahin hat sich die Meinung vieler Lehrkräfte schon so verfestigt, dass das Kind aus der Ecke der Minderbegabten mit noch so viel Anstrengung nicht mehr herauskommt. Sie dort zu belassen, ist für Lehrkräfte in unserem Schulsystem einfacher  als auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und auch ihm Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Auch das zerstört Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl – aber das System, das ist halt so.

Wenn solche Kinder Glück haben, kommen sie aus einem Elternhaus, das sich gegen diese demütigende Einstellung des „Systems“ auflehnt, oder treffen später in ihrer Schullaufbahn auf eine Lehrkraft, die an sie glaubt. Wenn Kinder Pech haben, bleiben sie in dem Teufelskreis von Versagen, Abwertung und Minderwertigkeitsgefühl stecken.

Es gibt auch so etwas wie die emotionale Misshandlung von Kindern im Alltag. Nur wird sie nicht als solche definiert und regt daher auch kaum auf.

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