Nach mehr als 40 Jahren innenpolitischen Journalismus und unzähligen Parteitagen der ÖVP an die nächste Parteiveranstaltung noch immer mit den Prinzip Hoffnung heranzugehen, kann man entweder als einfältig oder gedächtnisschwach oder beides sehen. Und dennoch: Man sollte der Versuchung widerstehen, nach alter journalistischer Manier den 36. Außerordentlichen Parteitag der ÖVP in der Wiener Hofburg als schwach und enttäuschend einzuschätzen noch bevor er begonnen hat.
Es stimmt schon, dass nach der reinen Lehre der Erfahrung in Österreich meist alle Vorurteile, die man in der Innenpolitik gegen Personen und/oder Ereignisse hegt, irgendwann bestätigt werden. Tatsächlich erscheint es auch etwas übertrieben, wenn die ÖVP auf ihrer Homepage den Stundenzähler eingeschaltet hat und die Minuten und Sekunden bis zum Beginn des Parteitages herunter zählt. Etwas überspannt auch, die Tatsache, dass sich 530 Parteimitglieder am Gewinnspiel um die Teilnahme am Parteitag beteiligt haben, als Erfolg zu feiern. Aber heute schon zu wissen, dass das mit dem neuen Parteiprogramm wieder nichts wird, ist doch auch übertrieben.
Also das Prinzip Hoffnung existiert: Dass es bei den diversen Themen, vor allem den intern kontroversiellen wie etwa der EU-Armee mit österreichischer Beteiligung oder dem Vorschlag der Jungen ÖVP für ein Mehrheitswahlrecht mit Skurrilitätpotenzial (50 Prozent der Mandate minus 1 für die stimmenstärkste Partei), zu Überraschungen kommt; dass Staatssekretär Harald Mahrer, der Erfinder der „Sunset Legislation“ für Österreich (zeitlich befristete Gesetze) seinen innerparteilichen Stellenwert am Abstimmungsergebnis für diesen durchaus nicht unvernünftigen Vorschlag ablesen kann; dass es im Gegensatz zum diskussionsfreien Wahlparteitag im Herbst 2014 und dem nahezu totalitären Ergebnis für Reinhold Mitterlehner damals nun zu wirklichen Auseinandersetzungen um Positionen der ÖVP kommen wird; dass die Propagandamaschine, die nun die ÖVP als liberaler, weiblicher, toleranter, aufgeschlossener verkauft, tatsächlich auch entsprechende Inhalte und Festlegungen produziert; dass „Schein“ zu „Sein“ mutiert.
Worauf sich diese Hoffnung stützt? Auf die Neuerung der elektronischen Abstimmung. Generell stürmen in Österreich nicht lauter couragierte Helden durch die politische Landschaft und auf einem Parteitag schon gar nicht durch die Reihen der Delegierten. Wenn jeder beobachten kann wie um ihn herum abgestimmt wird und wer wie abstimmt, halten sich die Überraschungen in Grenzen. Wenn man aber seine Meinung so schnell per Knopfdruck ausdrücken kann, dass es die anderen nicht sehen, ist eher ein ehrliches Ergebnis zu erwarten, das die Stimmungslage in der Partei realistisch widerspiegelt. Wir werden sehen! Aber die Chance der ÖVP, die Öffentlichkeit mit Offenheit und Diskussionen auf hohem Niveau zu verblüffen, sollte man vorerst intakt lassen.
ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner muss diesen Programmparteitag zu einem Erfolg machen. Er hat ihn, den Erfolg, dringender nötig als jetzt so manche medialen Jubelmeldungen und die innerparteiliche Euphorie vermuten ließen. Es muss Mitterlehner nämlich das Kunststück gelingen, die Öffentlichkeit angesichts der schlechten Wirtschaftsdaten und der höchsten Arbeitslosigkeit seit 1945 glauben zu machen, er sei erst vor kurzem in die Verantwortung gekommen.
So muss er etwa trachten, dass gewisse Fragen gar nicht gestellt werden. Beim Landesparteitag der Vorarlberger ÖVP am Wochenende und in Interviews etwa forderte er: Österreichs Wirtschaft müsse von der „Kriechspur“ wieder auf die Überholspur kommen. Nur, wer hat das Land auf die Kriechspur gelenkt? Wer war als Minister die letzten sieben Jahre für die Wirtschaft verantwortlich. Es ist schon sehr kühn, als zuständiger Politiker jetzt von „müsste“ und „sollte“ zu reden. Noch kühner, auf der Homepage der ÖVP als Parteichef Dinge zu fordern, die man als Wirtschaftsminister längst hätte in Angriff nehmen können.
„Wir müssen den Trend der steigenden Arbeitslosigkeit stoppen“, verlangt der ÖVP-Chef dort. Wer hat Mitterlehner bisher davon abgehalten? Es müsse einen „effizienteren Einsatz von Mittel“, „beschäftigungsnahe Vermittlungstätigkeit“ geben. Sollte der Sozialminister hier säumig gewesen sein, wer hat den Wirtschaftsminister daran gehindert, ihm auf die Sprünge zu helfen. „Expertenwissen“ sollte genutzt werden? Warum hat das Wirtschaftsministerium das bisher unterlassen?
Da aber die Wirtschaftsdaten, die schwächelnde Konjunktur und eine Arbeitslosigkeit, die man nicht in den Griff bekommt, in dem Moment die wichtigeren Themen sein werden, in dem am ÖVP-Parteitag die Abstimmungsmaschine ab- und die Lichter ausgedreht werden, ist klar: Mitterlehner und seine ÖVP werden daran gemessen werden – und nicht daran, ob die Partei anders strukturiert wird oder nicht, wie sie das mit der Homo-Ehe wirklich meint etc.
Hoffen, dass die Parteiführung bald zu dieser Erkenntnis kommt, wird man ja noch dürfen.
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