Was habe ich mit Pawlow’s Hund zu tun? Jenem Hund, der auf einen bestimmten Reiz immer die gleiche Reaktion zeigte. Ungefähr so viel wie mit dem Murmeltier, das täglich grüßt. Und dennoch sind mir beide in mehr als 40 Jahren innenpolitischen Journalismus ans Herz gewachsen.
„Ich verstehe das nicht“ ist ein Satz, der Journalisten nach so vielen Jahren in einem so überschaubaren Land wie Österreich eigentlich nicht über die Lippen kommen dürfte. Und dennoch sage ich ihn bei all der Erfahrung auch heute noch und gerade jetzt wieder. Das hat weniger mit mir und Pawlow’s Hund zu tun als mit der heimischen Politik, den immer gleichen Reflexen und dem immer gleichen Verhalten.
Drei Beispiele dieser Tage können belegen was ich meine:
1. Ich verstehe nicht warum auch heute noch darüber diskutiert werden muss, dass es Arbeitssuchende gibt, die sich, vom Arbeitsmarktservice dorthin geschickt, bei Unternehmen nur den berühmten Stempel holen wollen und gar nicht die Absicht haben, die Stelle anzunehmen.
Beispiele von in der Realität minder-motivierter Arbeitssuchender gab es schon vor Jahrzehnten en masse – auch schon lange vor der Einführung der Mindestsicherung, deren Höhe jetzt als Begründung herangezogen wird: 800 Euro Mindestsicherung + 400 Euro Schwarzarbeit =
Nettogehalt im Billiglohnsektor. Warum also 38 Wochenstunden arbeiten.
Früher hieß das Arbeitslosengeld plus Pfusch mit dem gleichen Resultat.
Ich verstehe nicht, warum das jetzt ein neues Phänomen sein und einen neuen Generalverdacht auslösen soll.
Ich verstehe nicht, warum man Jahrzehnte verstreichen ließ. Das Problem hätte man mit geeigneten Maßnahmen schon viel früher in den Griff bekommen können. Entweder die Unternehmen wollten sich damals wie heute nicht den bürokratischen Aufwand einer Meldung an das Arbeitsamt, das heute gefühlsneutraler Arbeitsmarktservice heißt, antun – oder diese Bürokratie war zu lasch. In Zeiten der Vollbeschäftigung war der Missbrauch in diesen Fällen wahrscheinlich stillschweigend toleriert worden.
Ergo sollte man nicht jetzt schon wieder nur darüber reden, sondern entsprechende Maßnahmen beschließen.
Ich verstehe nicht, dass ich die Einzige sein soll, die sich an die zahllosen Beispiele der Beschäftigten im Gastgewerbe, im Friseurgewerbe etc. erinnern soll. Die Geschichte von der angeblich „sozialen Hängematte“ ist so alt wie der Ausbau des Sozialstaates.
Ich verstehe auch nicht, dass diese Regierung wie all ihre Vorgänger in den letzten Jahrzehnten durch Inaktivität auf diesem Sektor und in anderen Bereichen tatkräftig an der Verfestigung des „Stillstands“, der jetzt von Medien und Wählern beklagt wird, gearbeitet hat. Und warum sich jetzt irgendwer darüber wundert.
Ich verstehe nicht, wie man jetzt von etwas überrascht sein kann, von dem die meisten Österreicher seit Jahren wissen.
2. Ich versteh nicht, warum seit zehn Jahren in der rot-schwarzen Regierungspolitik ganz unverhohlen der immer gleiche Reflex einsetzt: Auf einen Vorschlag folgt ohne Verzögerung wie bei Pawlows Experiment die Ablehnung.
Nehmen wir als Beispiel den Vorschlag des Justizsprechers der SPÖ, Johannes Jarolim her: Abweichende Meinungen, sogenannte „dissenting votes“, bei den Urteilen der Verfassungsgerichtshofs sollten veröffenticht werden. Umgehend reagierte ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka mit „Nein“. Das hätte keinen „Mehrwert“. Für wen, sagte er nicht. Woraus dieser „Mehrwert“ der geheim gehaltenen Abstimmung bestehen und wem er dienen sollte, auch nicht. Das trage nur zur „Verunsicherung“ bei. Wessen? Überhaupt gehört das Verunsicherungsargument zu den beliebtesten Reflexslogans der österreichischen Politik. Unglaublich, wer da aller nicht verunsichert werden soll. Damit erspart man sich jede Auseinandersetzung mit Fakten.
Auch die Höchstrichter sollten offenbar nicht verunsichert werden, sie benötigen laut Lopatka „Schutz“, sonst könnten sie „unter Druck“ geraten. Wer soll den ausüben? Die veröffentlichte Meinung, die Öffentlichkeit, die Parteien. Lopatka vertraut offenbar den Höchstrichtern nicht, Druck standzuhalten.
Sicher gibt es für beide Positionen gute Argumente, wie die unterschiedliche Praxis in vielen Ländern beweist: In Deutschland, den USA, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Dänemark werden Minderheitsmeinungen bei Höchstgerichtsurteilen veröffentlicht, in Finnland, Frankreich oder Spanien nicht. Siehe (http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/06/utah-streiff-sotomayor/487922/)
Das Problem hier ist nicht, welche der beiden Varianten man für besser hält. Das Problem ist, dass man sich in Österreich nicht einmal auf eine substanzielle Diskussion einlässt.
3. Beispiel: Der Vorschlag der SPÖ zu Veränderungen bei Wahlärzten: ÖVP-Generalsekretär Peter McDonald holte unverzüglich die simpelste Begründung für das „Nein“ hervor: „Das war nicht abgesprochen.“ Na so was? Der Inhalt eines Vorschlages spielt keine Rolle. Die ÖVP dürfte hier die besseren Argumente auf ihrer Seite haben bezüglich der medizinischen Versorgung, denn die Krankenkassen verschleiern oft, dass es für sie nur um reine Einsparungen geht und nicht um irgendwelche Verbesserungen der Versorgung.
Das wäre also eine gute Gelegenheit, über den Bürokratiemoloch der Kassen zu reden. Dazu müsste man eine Diskussion überhaupt erst zulassen.
Ich verstehe also nicht, warum man bezüglich minder-motivierter Arbeitssuchender nicht schon seit Jahrzehnten aktiv geworden ist; warum man bezüglich des Verfassungsgerichtshofs sich nicht auf eine qualitätsvolle Debatte einlassen kann; warum man bezüglich der Wahlärzte nicht sagt: Ok, wir reden darüber, wir überzeugen Euch.
Wer hilft mir, Pawlows Hund in der Innenpolitik zu verstehen?