Gut, Innenministerin Johanna Mikl-Leitner vertritt auch die ÖVP. Und sie war in den letzten Monaten das Gesicht der Asylkrise und des Asylchaos in Österreich. Gut, Außenminister Sebastian Kurz vertritt auch die ÖVP. Und er war in den letzten Wochen mit der Westbalkan-Konferenz in Wien und einem Brief an EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, beschäftigt. Darin hat er Friedensinitiativen in Syrien und Libanon, die Errichtung von Schutz- und Pufferzonen und den verstärkten Schutz der EU-Außengrenzen verlangt, also alles Maßnahmen, bei denen Österreich nicht wirklich gefordert ist. Und ja, am Anfang der Asylkrise fiel Kurz mit der Forderung nach Einschränkung der Sozialleistungen für Zuwanderer, kürzlich mit jener nach weniger Sozialleistungen für Flüchtlinge auf.
Im Großen und Ganzen aber übte sich die ÖVP, vor allem ihr Parteichef Reinhold Mitterlehner, in den Monaten der Krise und den letzten dramatischen Tagen in vornehmer öffentlicher Zurückhaltung. Da nicht anzunehmen ist, der Geisteblitz der Berufung des ehemaligen Raiffeisen-Chefs Christian Konrad zum Flüchtlingskoordinator vor zwei Wochen hat alle Energie verbraucht, muss das ostentative Phlegma der ÖVP vor und nach der Flüchtlingswelle wohl andere Gründe haben. Es kann ja auch nicht sein, dass die ÖVP ausgerechnet jetzt ihre christlichen Wurzeln so tief vergraben hat, dass sie auf die Schnelle just bei dem christlichen Kernthema („Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan“) nicht zu finden waren.
Was also können die Gründe dafür sein, dass ÖVP als Regierungs-. Landeshauptleute- und Bürgermeister-Partei sich so auffällig minder-präsent in der Flüchtlingsfrage gegeben hat? Diese Frage habe ich übrigens im Juli einer Vertreterin der Grünenfür ihre Partei auch gestellt und die Antwort dürfte auch für die ÖVP gelten: Angst davor, die Konzentration auf Asylfragen würde nur der FPÖ zugute kommen; eine Angst, die offenbar vor den beiden Wahlgängen in Oberösterreich und Wien zu so etwas wie einem Hinter-Meiner-Vorder-Meiner-Gilt nicht-Syndrom geführt hat. Wenn man sich nicht exponiert, kann es einem auch nicht schaden. Das war allerdings vor den dramatischen Tagen der letzten Zeit.
Angst überhaupt. Die Angst der Parteiführung vor den eigenen Funktionären, der eigenen Klientel und den Wählern. Dort sind nämlich so ziemlich alle Strömungen vorhanden, die man sich bei einem Thema wie Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen nur vorstellen kann, zumal es die Parteiführung auch nicht geschafft hat und nicht schafft, Klarheit in den Köpfen ihrer Funktionäre und Wähler bei der Unterscheidung von Flüchtlingen, Asylwerber, illegale Zuwanderer und Migranten herzustellen. Wenn aber alles durcheinander gerät, dann lässt sich schwer eine einheitliche Parteilinie finden und gemeinsam vertreten. Dass es Reinhold Mitterlehner und sein Führungsteam in den letzten Wochen und Monaten nicht einmal versucht und lieber das Heil in Unauffälligkeit gesucht haben, könnte sich noch rächen.
Alles zusammen erklärt aber noch nicht das Verhalten von Sebastian Kurz. Gut, er ist geschickt genug, alles zu vermeiden, was ihm (siehe innerparteiliche Zerrissenheit) in der ÖVP als Zukunftshoffnung schaden könnte. Gut, er vermeidet es, sich auch nur mit einer Gruppe in der ÖVP anzulegen. Aber zu seinem Portfolio im Ministerium gehört auch die Integration. Und da war die Forderung nach eigenen Deutschklassen für Flüchtlingskinder entschieden zu wenig.
Es kann also durchaus sein, dass Mitterlehner, Kurz und die ÖVP auf den Sommer 2015 als den Sommer der versäumten Chancen zurück blicken werden.