Interessensgemeinschaft zur Verblödung der Bürger

An manchen Tagen ist es zum Verzweifeln. Und zuletzt waren solche „manche Tage“. Leiden denn alle unter Gedächtnisschwäche oder gar –schwund? Politiker geben im Brustton der Überzeugung Dinge von sich, bei denen man sich fragen muss: Warum bleiben die Worte nicht im Hals stecken? Medien geben sie dann einfach wieder, ohne sie in den Kontext zu stellen, ohne sie auf ihre Berechtigung zu überprüfen – ganz so als wären sie einfach „wahr“.  Das nenne ich eine Interessensgemeinschaft zur Verblödung der Bürger.

Zwei Fallbeispiele der letzten Tage:

  • Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) will der Öffentlichkeit mit seinen Forderungen nach Konsequenzen bei Integrationsverweigerung  in den Schulen weismachen, die damit verbundenen Probleme seien seine Entdeckung. In einem Interview im ORF-Radio prangerte er die Versäumnisse der ehemaligen Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) an.

In Wahrheit ist das, worüber jetzt so heftig diskutiert wird, seit den späten neunziger Jahren bekannt. Seit damals klagen Lehrkräfte über die Schwierigkeiten mit Vätern von Kindern mit Immigrationshintergrund; über die Weigerung moslemischer Mädchen (oder deren Eltern), an Turn- und Schwimmunterricht teilzunehmen; über die Nichtakzeptanz weiblicher Autoritäten in den Klassenzimmern durch moslemische Burschen. Das sind seit mindestens 15 Jahren Alltagsgeschichten, dutzend Mal erzählt, noch öfter von den Schulbehörden ignoriert. Man hat die Lehrkräfte mit damit einfach allein gelassen.

Jetzt aber, da die Terrorakte von Paris wieder einmal alle aufgescheucht haben, wird politisch so getan, als handle es sich um ein neues Phänomen der letzten Jahre. Und die Medien spielen mit. Nun gut, Kurz ist zu jung, um den Überblick über die Zeit seit den neunziger Jahren zu haben. Als Elisabeth Gehrer (ÖVP) das Unterrichtsministerium 1995 übernahm, war er neun Jahre alt.

Selbst wenn er danach ein politisch sehr interessierter Knirps gewesen sein sollte, muss er sich heute nicht mehr an die Themen von damals erinnern.  Aber erstens könnten ihn kompetente Berater davon abhalten mit dem Seufzer „Ach, wir haben ein Problem“ so zu tun als würde er die Realität in den Schulen erst jetzt entdecken. Und zweitens könnten die Medien für ihn die notwendige Einordnungsarbeit leisten und ihn auf die Verantwortung des damals ÖVP-geführten Unterrichtsministeriums hinweisen. Claudia Schmied kann man vieles vorwerfen, so auch die Vernachlässigung der Schulwirklichkeit oder die mangelnde Kommunikation mit Direktoren und Schulvertretern, aber das Problem mit integrationsunwilligen Eltern und Schülern gibt es mit Sicherheit nicht erst seit 2007.

2. Burgendlands Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) hat jetzt als Rezept gegen Integrationsunwilligkeit nicht nur den Einfall, man könnte diese bestrafen, sondern auch die gloriose Idee zur Politischen Bildung an den Schulen als Pflichtfach. Für Niessls Amnesie kann nicht - wie bei Kurz – die Jugend als Erklärung herangezogen werden. Er müsste sich aufgrund seines Alters schon an den Krampf der SPÖ mit der Politischen Bildung an den Schulen seit den späten siebziger Jahren erinnern bevor er jetzt als Spontaneingebung die Vermittlung der „Werte einer liberalen, demokratischen Gesellschaft” verlangt.

Aus der guten oder auch nicht so guten alten „Staatsbürgerkunde“ an den höheren Schulen wurde damals die „Politische Bildung“. Weil das aber wegen der Angst vieler Lehrkräfte vor politischen Aussagen, die parteipolitisch zu Karrierehemmern an den Schulen werden konnten, nicht so gut funktionierte, machte man später aus dem Gegenstand ein Unterrichtsprinzip. Politische Bildung als Teil des Deutsch-, Geografie-, Geschichteunterrichts und aller anderen, wenn man nur so wollte. Viele wollten aber auch dann nicht – weder so noch anders. Und jetzt will Niessl den Bürgern weismachen, die Forderung nach einem Pflichtgegenstand wäre sein Geistesblitz gegen Radikalisierung an den Schulen.

Und die Medien lassen auch ihm das durchgehen, ohne ihn mit den jahrzehntelangen Versäumnissen seiner Partei zu konfrontieren. Er ist dafür nicht verantwortlich, gewiss. Aber er müsste zumindest den Kontext kennen und wenn nicht, sollte man seinem Gedächtnis nachhelfen.

An vielen Schulen waren die Zustände, die zur Zeit so wortreich beklagt werden, schon vor mehr als 15 Jahren bekannt. Das gilt für Schüler mit türkischem Migrationshintergrund, die untereinander nur Türkisch sprechen, genauso wie für den Islam-Unterricht, von dem niemand weiß, wie er wirklich gestaltet wird.

Nochmals: Seit den neunziger Jahren waren all jene Bereiche, die man nun als Problemzonen an vielen Schulen identifiziert haben will, bekannt. Sie wurden entweder aus Bequemlichkeit der Schulbehörden oder aus  Frustration der Schulleitungen über die Indifferenz der Schulbehörden quasi als exterritorial behandelt. Am besten nicht hinschauen, am besten nicht aufgreifen – geht uns ja eigentlich nichts an. Politik und Verhalten nach dem Motto: Hinter meiner, vor dermeiner, gilt nicht!

Und jetzt sind alle erstaunt, was sich da abspielt. Und überschlagen sich mit Forderungen und Vorschlägen. Das sollte man so nicht durchgehen lassen. Um der Redlichkeit und vielleicht auch der Prävention willen.

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