In der Politik, der österreichischen jedenfalls, gibt es einen Überraschungseffekt, der immer wieder aufs Neue verblüfft: Jahrelang weisen Praktiker auf gewisse Fakten, Um- und Zustände hin, ohne dass die Politik oder die zuständigen Behörden irgendwie und schon gar nicht adäquat reagieren. Dann werden sie – aus welchen Gründen immer – von einem Mitglied der politischen und/oder medialen Kaste thematisiert und der Teufel ist los.
Und man fragt sich, ob Schwerhörigkeit eine politische Kategorie geworden ist, oder ob von Zeit zu Zeit ein Jö-Schau-Faktor notwendig ist, damit die Politik Dinge wahrnimmt, welche von Praktikern und der Bevölkerung schon lange debattiert werden. Das relativiert natürlich auch den ewigen Gemeinplatz vom „Ohr am Volk“.
Jüngstes Beispiel die Aufregung, Shitstorm inklusive, um die „Erkenntnis“ von Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) in einem Streitgespräch in der Samstagausgabe des „Standard", dass „das Arbeitslosengeld fast so genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen.“ Diese Erkenntnis haben Praktiker, die versuchen, Arbeitslose wieder in das Berufsleben zu integrieren, schon lange. Und die Diskussion um die „Zumutbarkeit“ von angebotenen offenen Stellen taucht so regelmäßig auf wie sie wieder verschwindet.
Wie sehen denn die Fakten aus, von denen sich jetzt so viele wieder überrascht geben? Mindestsicherung 827 €, Lohn für eine 40 Stunden Woche etwa 1.200 € brutto, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Mazal in der Sonntagausgabe der „Kleinen Zeitung“ vorrechnete. Mit etwas „nebenbei“ lasse sich leicht der gleiche Netto-Betrag ohne 40 Stunden Woche erreichen, mit etwas mehr „nebenbei“ sogar übertreffen. Das erzählen Kenner der Situation schon lange. Und fügen resignierend bei: Wer könnte es den Betroffenen schon verdenken?
Nicht überraschen sollten die reflexartigen Reaktionen von SPÖ und Grüne, mit denen sie die Gelegenheit nutzten, Schelling soziale Kälte vorzuwerfen. Ungeachtet der Tatsache, dass die so verhasste Hartz IV Regelung in Deutschland von den Sozialdemokraten beschlossen worden war und sich sogar Angela Merkel (CDU) bei Gerhard Schröder für die Reformen der Agenda 2020 bedankt hat.
Hört denn wirklich niemand in der Politik jenen zu, die im Alltag mit diesen Fragen zu tun haben? Können diese wirklich nur mit ideologischen Blähungen und nicht mit sachlicher Nüchternheit diskutiert werden?
Hier ein paar jener Fragen, auf die praktische Antworten gefunden werden sollten:
1. Warum das staatliche Arbeitsmarktservice (AMS) über 1,1 Milliarden jährlich zur Verfügung hat und diese Mittel offenbar nicht effizient genug einsetzt? Das ist etwas, worum sich Finanzminister Schelling kümmern sollte, auch wenn er damit dem Sozialminister in die Quere kommt, geht es doch um den Einsatz von Budgetmittel, also Steuergeld.
2. Wie es sein kann, dass Arbeitgeber Arbeitsplätze anbieten und das AMS kein Interesse an einer Vermittlung zeigt?
3. Warum in Österreich nicht differenziert gedacht und gehandelt werden kann? Eines der Grundübel scheint zu sein, dass der bürokratischen Einfachheit halber immer alles über einen Kamm geschert wird. Es muss doch möglich sein, arbeitsunwillige Bezieher von Mindestsicherung von jenen zu trennen, die diese wirklich benötigen. Nicht durch noch mehr Bürokratie und Kontrolle, sondern durch Einsatz des ganz gemeinen (soll heißen: gewöhnlichen) Hausverstands.
Es ist bezeichnend, dass Schelling jetzt – je nach ideologischem Standpunkt – für alt bekannte Tatsachen des wirklichen Lebens kritisiert oder gelobt wird. Jö-Schau-Politik vom Feinsten!