Am Mittwoch trat Angela Merkel ihre vierte Amtszeit als Bundeskanzlerin Deutschland an. Am Tag zuvor trat Gerhard Schröder, ihr Vorgänger im Amt und ehemaliger SPD-Chef, im Sitzungssaal des österreichischen Nationalrats bei einer Rede auf Einladung von Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) auf. Das war so als würde der Präsident des deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, 2019 Schüssel 13 Jahre nach dessen Abwahl den Bundestag als Bühne zur Verfügung stellen. Kann sich das jemand vorstellen?
Wahrscheinlich genauso wenig wie man sich in Deutschland die übertriebene Höflichkeit vorstellen kann, die sich immer dann eine Bahn bricht, wenn es Österreich mit internationaler Prominenz zu tun hat. Ob es dabei um standing ovations für den russischen Präsidenten Vladimir Putin handelt wie vor vier Jahren oder eben um das überschwängliche Lob für einen Politiker, der seit Jahren zwar kein Amt, aber eine Beschäftigung beim russischen Konzern Gazprom hat. Immer ist es das eine Scherflein zu viel, das Höflichkeit zu Lobhudelei macht. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka hätte Schröder auch sachlicher begrüßen können.
In Österreich wiederum kann man oder mag man sich nicht vorstellen, dass von 399 Abgeordneten einer Regierungskoalition ein Zehntel etwa (35) den Fraktionszwang verweigern und gegen die Vereinbarung der Wahl Merkels stimmen. Das würde hierzulande ein politisches Beben auslösen. Sich gegen jeden Klubzwang aufzulehnen, das schaffen die österreichischen Mandatare nicht einmal dann, wenn es um ihre eigene Glaubwürdigkeit geht. Allein, in Österreich wird der Regierungschef ja auch nicht vom Nationalrat gewählt. Daher kommen in Wien die Abgeordneten auch gar nicht in Gefahr, Klubzwang gegen eigene Überzeugung abwägen zu müssen.
Wie auch immer. Merkel ist mit der hauchdünnen Mehrheit von neun Stimmen Bundeskanzlerin. Entscheidend ist nun, dass in Deutschland und somit auch in Europa und der EU nach sechs Monaten so etwas wie politische Normalität einkehrt. Vor diesem Hintergrund war denn auch der Vortrag Schröders am Dienstag – gleichgültig ob im passenden Rahmen oder nicht – irgendwie zeitgerecht. Er wünsche sich die „Bereitschaft Deutschlands und Frankreichs zur politischen Führung“.
Der Vortrag drehte sich um die Antwort Europas auf die neue US-Politik „Amerika First“. Da bot der Alt-Bundeskanzler Deutschlands zwar keine neuen Gedanken, dafür aber eine präzise Analyse und ein paar Vorschläge. Interessant war auch was Schröder nicht sagte: Er warnte die EU zwar davor, sich von den USA nicht auseinander dividieren zu lassen und Donald Trump im angekündigten Handelskrieg nur mit einer Stimme gegenüber zu treten, erwähnte aber Russland im Kontext der Einheit Europas mit keinem Wort. Meldungen über versuchte Wahleinmischung in Frankreich und Italien zur Unterstützung der Rechtspopulisten dürften Schröder entgangen sein.
Was die EU betrifft, so war der durchaus selbstkritisch („Wir haben keine Sicherheitsstruktur geschaffen“) und eindeutig („Es wird eine EU der drei Geschwindigkeiten geben müssen“). Schröder sieht eine Dreiteilung Europas 1. in die Mitgliedstaaten der Euro-Zone wie Österreich und Deutschland, 2. In jene außerhalb dieser Zone wie Polen und Ungarn und 3. in jene Staaten außerhalb der EU wie künftig Großbritannien oder eben die Schweiz, die mit Verträgen mit der EU verbunden sind. In einem Nebensatz sah Schröder auch Russland als künftigen EU-Partner mittels Assoziierungsabkommen. Wie gesagt, die aktuellen Situation – Sanktionen, Krim-Annexion, Konflikt mit London - erwähnte er mit keinem Wort.
Immer wieder die Aufforderung an die EU zum gemeinsamen Handeln und die Absage an eine Renationalisierung innerhalb der EU. Denn eines sei klar, so Schröder, die USA verfolgten mit den angekündigten Handelskrieg die politische Strategie der Schwächung der EU. Daher werde es nicht helfen, einzeln in den USA um Ausnahmen bei der Einführung von Strafzöllen zu betteln, es müsse eine gemeinsame Linie gefunden werden. Der Euro müsste als dritte Weltwährung neben Dollar und Chinas Yuan etabliert werden.
Diese Gemeinsamkeit müsse vor allem die Finanzpolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Außenpolitik und den Grenzschutz umfassen. In diesen Bereichen müsse es mehr Europa geben und auf keinen Fall weniger. Hinzu kämen noch die Bereiche Klimaschutz, Migration und Digitalisierung. Das seien alles Felder für „mehr EU“. Den Rückzug, also weniger EU, empfahl er für die regionale und kommunale Ebene ohne dabei konkret zu werden.
Wichtiger ist Schröder der globale Rahmen. Russland und die Türkei sollten „näher an Europa“ geführt werden, es müsse verhindert werden, dass sie in „Richtung China“ abdriften. Auch da streifte er den Energiesektor, also Gas und Öl, von dem er etwas „versteht“, nur am Rande.
Ganz oben auf dem präsentierten Wunschzettel des Alt-Politikers aber steht der Erhalt der multilateralen Weltordnung. Darauf hoffe er nach wie vor. Und auch, dass unter US-Präsident Donald Trump alles „nicht so schlimm wird“.
Die Regierung aus Union und SPD in Berlin, seit Mittwoch im Amt, ist für Schröder ein Sieg der Vernunft seiner SPD und Deutschlands. Dass seine Partei am politischen Existenzminimum angelangt ist, ist Schröder keine Betrachtung wert, obwohl mit dem Schicksal der SPD jenes der Regierung in Berlin und somit jenes der Führungskraft Deutschlands und somit der Stabilität in Europa eng verbunden ist. Für eine Analyse der Sozialdemokratie kann ihn ja die SPÖ einladen – wenn auch vielleicht nicht mehr in den Sitzungssaal des österreichischen Parlaments.
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