In Hamburg gingen in der Vorwoche an die 150 Kinder auf die Strasse, um gegen die Handy-Sucht ihrer Eltern zu protestieren – mit Slogans wie „Flugmodus an! Ich bin dran!“ oder „Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr auf Eure Handys schaut“. Organisiert hat diesen Protest Medienberichten zufolge ein Siebenjähriger.
In Frankreich wurde kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das alle internetfähigen Geräte in Vorschulen und Schulen für alle Kinder bis 15 Jahre verbietet. In Deutschland gibt es ein ähnliches (umstrittenes) Gesetz in Bayern.
In Österreich kündigt die Regierung an, bis 2011 jedem Schüler in Österreich kostenlos ein Tablet oder Gratis-Laptop zur Verfügung zu stellen und einen „Masterplan Digitalisierung“ zu erstellen.
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Der Kinder-Protest in Hamburg sollte zu denken geben. Wenn Kinder unter mangelnder Aufmerksamkeit ihrer Beziehungspersonen leiden, so kann das weitreichende Folgen bis ins Erwachsenenalter haben. Wenn Erwachsene Suchtverhalten zeigen ebenso – von späteren Defiziten in der Kommunikationsfähigkeit bis zur unterentwickelten Empathie. Ganze Generationen von Psychologen und Psychiatern sollten sich heute schon auf die Behandlung emotionaler Schäden vorbereiten.
Das Gesetz in Frankreich wiederum zeigt die gesellschaftspolitische Hilflosigkeit im Umgang mit einem der Grundprobleme der Digitalisierung: der Unterscheidung zwischen Segen und Fluch der neuen Technologie. Flächendeckende Verbote haben mindestens so gravierende Konsequenzen wie unkontrollierte Freigaben.
In Österreich zeigt eine, diese Woche veröffentlichte, Umfrage, dass sich drei von vier Pädagogen schlecht auf die Digitalisierung vorbereitet fühlen, ältere erwartungsgemäß mehr als jüngere, aber selbst jeder fünfte Pädagoge unter 30 Jahre gibt an, ungenügend ausgebildet worden zu sein. Es dürfte also noch Jahrgangs-Generationen dauern bis die Klassenzimmer von Lehrern bevölkert sind, die „digital denken und unterrichten“, wie die Regierung das jetzt will.
Es ist daher verständlich, dass Dorothee Ritz, die General Managerin von Microsoft Österreich, auf den rasenden Zug in die digitale Zukunft aufspringt und in der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ in einem Gastkommentar unter dem Titel „Digitale Bildung sichert Österreichs Zukunftsfähigkeit“ die Unterstützung ihrer Firma anbietet. Es komme jetzt auf „konkrete Maßnahmen“ an, die schnell umgesetzt werden müssen, damit Österreich im globalen Wettbewerb der Digitalisierungsnationen mithalten könne.
An dieser Stelle ist ein Bekenntnis notwendig, um Missverständnisse im Weiteren zu vermeiden: Ich bin ein uneingeschränkter Fan des Internets. Global mit der ganzen Welt verbunden sein zu können, Informationen aus allen Ecken der Welt holen zu können, Ereignisse wie etwa den Start einer Rakete in den Weltall in Echtzeit oder Vorkommnisse, die der analogen Übertragung der TV-Kanäle nicht würdig sind, verfolgen zu können, haben für mich etwas absolut Positives. Ich bewundere diese Technologie.
Dennoch: Digitalisierung als neues Zauberwort löst bei mir ein starkes Unbehagen aus. Der Glaube an die „Heilskraft“ der neuen Technologie hat etwas Unreflektiertes. Es fehlt das rationale Abwägen von Vor- und Nachteilen, die kühle Abschätzung, wo der Einsatz gewinnbringend ist und wo nicht. Die einseitige Jubelhysterie hat immer auch etwas Bedrohliches.
Es empfiehlt sich das Buch von Manfred Spitzer „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer, 2012). Vom Standpunkt des Mediziners schreibt er zum Beispiel: „Wer in seinem Leben viel gelernt (nicht gepaukt, sondern wirklich erlebt und verarbeitet) hat, der hat viele Spuren in seinem Gehirn, die es ihm ermöglichen, sich in der Welt zurecht zu finden und effektiv zu handeln.“ Wer aber erlebt beim starren Blick auf das Tablet und dem Laptop schon etwas? Es sei, so schreibt er weiter, „nicht nur unverständlich, sondern vor allem unerträglich, wie sich Schulen derzeit regelrecht gegenseitig zu überbieten suchen, wer mehr digitale Medien – also Lernverhinderungsmaschinen – angeschafft hat und wie gerne sich Politiker mit solchen Geräten fotografieren lassen, um ihren Reformwillen zu bekunden. Tatsächlich zeigen sie damit, dass ihnen diejenigen, um die es hier eigentlich geht – Kinder und Jugendliche – völlig egal sind. Ganz offensichtlich geht es mehr um Wirtschaftsinteressen.“ Er schrieb das vor sechs Jahren.
An dieser Stelle erinnert man sich an den 12-Punkte-Plan der Vorgängerregierung. Die SPÖ verkündete im Juli 2017 mit „Schule 4.0 – Jetzt wird’s digital!“ die große Offensive zur Digitalisierung der Klassenzimmer und der Gesellschaft, „damit alle vom digitalen Fortschritt profitieren“, so die damalige Unterrichtsministerin Sonja Hammerschmid.
Laut Spitzer ist es aber absolut schädlich und sollte untersagt werden, Kindern unter 12 Jahren ein digitales Gerät in die Hand zu geben. Die Folgen beschreibt er ziemlich drastisch: Digitale Medien hätten ein hohes Suchtpotenzial, würden langfristig dem Körper, vor allem aber dem Geist schaden. Das Gehirn schrumpfe, weil es nicht mehr ausgelastet sei, der Stress zerstöre Nervenzellen und nachwachsende Zellen überlebten nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Und wörtlich: „Digitale Demenz zeichnet sich im Wesentlichen durch die zunehmende Unfähigkeit aus, die geistigen Fähigkeiten im vollen Umfang zu nutzen und zu kontrollieren...“ Und weiter: „Ein Teufelskreis aus Kontrollverlust, fortschreitendem körperlichen und geistigen Verfall, sozialen Abstieg, Vereinsamung, Stress und Depression setzt ein; er schränkt die Lebensqualität ein und führt zu einem um Jahre früheren Tod.“ Die Gehirnforschung könne das alles beweisen.
Drastische Worte von jemanden, der weiß, dass „digitale Medien Teil unserer Kultur“ sind, die Produktivität erhöhen, das Leben erleichtern und einen großen Unterhaltungswert haben. Auch Spitzer kennt den Gemeinplatz: Nicht die Technologie an sich ist schädlich, sondern die Art wie wir sie nutzen. Er listet daher 16 Ratschläge auf, was man den schädlichen Auswirkungen entgegen halten sollte. Sie unterscheiden sich unwesentlich von Ratschlägen zur allgemeinen Demenz-Vermeidung. Betreffend der Kinder meint er: „Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies ist das Einzige, was erwiesenermaßen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne digitalen Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit.“
Es geht auch Spitzer nicht darum, ob digitale Geräte verwendet werden sollten, sondern wie sie eingesetzt werden. Bevor das Zauberwort Digitalisierung zum Zauberlehrling mutiert, der nicht mehr beherrscht werden kann, sollte eine ruhige, umfassende öffentliche Debatte über Wünschenswertes und Vermeidbare stattfinden.
Denn auch wenn man Spitzers radikalen Ansatz skeptisch sieht, irgendetwas muss er richtig analysiert haben: Siehe die Kinder auf Hamburgs Strassen.
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