Es begann alles in diesen Stunden vor gut einem Jahr. Die Novembernacht in New York ist kalt. Um zwei Uhr früh verlassen tausende Anhänger von Hillary Clinton das hell erleuchtete Javis Center in Manhattan, in das die Kandidatin der Demokraten zu ihrer Siegesfeier geladen hat. Trotz der Massen sind die umliegenden Strassen gespenstisch still. Es fehlen die Worte. Tränen da und dort, hängende Köpfe überall. Donald Trump hat die Wahl zum 45. Präsidenten der USA gewonnen.
Wer seither jede Rede, jeden Ausfall, jede Twittermeldung und jede Entscheidung Trumps in den Medien verfolgt, kann seine Gesundheit ernsthaft gefährden. Dauerhafter Erregungszustand, fortgesetzte morbide Faszination mit jeder skandalösen Aussage und die vergebliche Suche nach Normalität, nervöse Beobachtung, Angstattacken können krank machen.
Nach einem Jahr Trump-Präsidentschaft ist klar, dass alle sich geirrt haben, die glaubten, der Immobilien-Millionär aus New York werde sich nach der Übersiedlung in das Weiße Haus in Washington schon mäßigen, werde sich ändern und das Land versöhnen. Seine Antrittsrede im Jänner dieses Jahres zerstörte diese Illusion. Es war eine Hassrede wie aus dem Lehrbuch des Populismus.
Am Ende des ersten Amtsjahres sind seine Popularitätswerte so schlecht wie bei keinem anderen Präsidenten vor ihm und von 45 Prozent auf 38 Prozent abgesackt. Nicht aber unter seinen Anhängern. Eine Rundfrage der „New York Times“ dieser Tage bewies: In ihren Augen ist an allem, was er nicht erreicht hat, an jedem nicht eingelösten Versprechen, die Republikanische Partei schuld, nicht Trump.
Es gibt kein neues Gesetz zur Krankenversicherung, keine Mauer zu Mexiko, keine neuen Einreisebestimmungen, noch keine Steuerreform, keine Rede mehr vom Trockenlegen der Sümpfe in Washington – aber die Wirtschaft boomt. Dass die Grundlage dafür in die Regierungszeit Barack Obamas gelegt wurde, spielt keine Rolle. Trumps Anhänger glauben was er sagt: „Ich habe einen Sauhaufen übernommen.“ Dass dies nicht der Realität 2017 entspricht, spielt keine Rolle.
Nach einem Jahr muss man zur Kenntnis nehmen: Es ist wie es ist! Da es jedoch morgen oder übermorgen erstens wegen der Unberechenbarkeit des Präsidenten und zweitens wegen der laufenden Untersuchungen seiner Wahlkampagne schon wieder ganz anders sein kann, lohnt sich ein Blick auf mögliche Entwicklungen.
1. Ein unvorhergesehenes Ereignis stabilisiert die Präsidentschaft Trumps so wie der Anschlag auf das World Trade Center 9/11 jene von George W. Bush definiert und in gewisser Weise gerettet hat. Auch Bush hatte in seinem ersten Amtsjahr 2001 wenig bis nichts vorzuweisen, eine zweite Amtszeit war damals wenig wahrscheinlich.
2. Trump, der allen Angaben zufolge selbst am meisten überrascht von seiner Wahl war, verliert die Lust an der Arbeit des Amtes und zieht sich freiwillig zurück. Das wurde gerade eben erst in einem ZIB2-Interview vom ehemaligen CNN-Journalisten Frank Sesno ausgeschlossen: Trump liebe die Aufmerksamkeit, die er durch das Amt genießt, und er liebe die Macht. Was immer kommt, als Verlierer, als „loser“ will er nicht dastehen.
3. Die Untersuchungen des Sonderermittlers Robert Mueller in die Verbindungen der Trump-Wahlkampagne zu Russland, die Untersuchungen in beiden Häusern des Kongresses, fördern Ergebnisse zu Tage, die nicht nur Trump und sein Team in unbeherrschbare Bedrängnis bringen, sondern auch die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens wahrscheinlich machen. So lange die Republikaner Repräsentantenhaus und Senat kontrollieren, ist dies unwahrscheinlich. Allerdings ist die Situation in dieser Präsidentschaft so unberechenbar wie der Präsident selbst.
Für eine Amtsenthebung ist eine einfache Mehrheit im Repräsentantenhaus und eine Zweidrittel-Mehrheit im Senat erforderlich.
4. Eine Amtsenthebung kann aber auch nach dem 25. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung erfolgen. Demnach müsste der Vizepräsident und eine Mehrheit des Kabinetts den Präsidenten aus verschiedenen Gründen für amtsunfähig erklären. Sie müssten dies den Vorsitzenden von Haus und Senat schriftlich mitteilen. Das Amt ginge automatisch an den Vizepräsidenten (Mike Pence). Widerspricht der Präsident, muss der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister binnen vier Tagen dagegen Einspruch erheben. Dann muss der Kongress binnen 48 Stunden zusammentreten und binnen 21 Tagen entscheiden, ob er der Auffassung des Vizepräsidenten und des Kabinetts zustimmt oder nicht. Wenn nicht, übernimmt der Präsident wieder das Amt.
In dem jetzigen aufgeheizten, polarisierten und – wie Trumps Massenversammlungen der letzten Zeit gezeigt haben – hasserfüllten Klima in den USA könnten die Punkte 3 und 4 zu schweren Ausschreitungen führen. Selbst bei Punkt 2 wären solche nicht auszuschließen. Verschwörungstheorien jeder Art würden die Stimmung aufheizen. Dieses eine Amtsjahr hat nämlich schon gezeigt, dass Donald Trump unfähig ist, Fehler einzugestehen.
Alle vier Szenarien sind also nicht geeignet, gesundheitsfördernde Beruhigung zu vermitteln. Eine fünfte Möglichkeit, die Rückkehr zu einer Politik des Augenmaßes und der Vernunft, ein Verzicht auf Aggression und Schuldzuweisungen, ist nach der bisherigen Erfahrung auszuschließen. Warum sollte der 71jährige Präsident auf sein bisheriges Erfolgsrezept verzichten?
Es gilt also, die Entwicklung mit angehaltenem Atem zu verfolgen. Auch das ist nicht gesund.
geralt