Schlitzen oder nicht schlitzen, das war die Frage.

Man hat es immer schon geahnt, nun ist es aber bestätigt: Zur Schwächung unserer Demokratie brauchen wir keine Bedrohung von außen oder von extremen Kräften im Inneren, das machen wir schon ganz von selbst – nach dem Motto: Wir beschädigen die Demokratie wie wir wollen!

Den Beweis liefert die öffentliche Anhörung im Verfassungsgericht zur FPÖ-Anfechtung der Präsidenten-Stichwahl vom 22. Mai. Der Anwalt der Grünen, Georg Bürstmayr, sprach am Mittwoch von einem „kreativen Umgang mit den Regeln“. Gemeint war damit die Nicht-Einhaltung einschlägiger Vorschriften der Wahlordnung der Bundespräsidentenwahl wie etwa bei der Öffnung der Briefwahlkarten am nächsten Tag um 9 Uhr oder bei der Anwesenheit aller Mitglieder einer Wahlkommission etc.

Der Wahlleiter von Graz-Umgebung formulierte es vor den Höchstrichtern so: „Im Bewusstsein, dass das nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes handbar ist“, habe man eben mit dem Schlitzen brauner Wahlkartenkuverts schon am Freitag vor der Stichwahl begonnen. Nein, am Samstag nicht aber ja am Sonntag wieder. Schlitzen oder nicht, das war dann die Frage. Wie, wo und wann? Wie schaut so ein geschlitztes Kuvert im Vergleich zu einem nicht geschlitzten aus? Nein, beim ersten Wahlgang am 24. April haben man nicht vorzeitig geschlitzt. Das nächste Mal wieder so schlitzen? Die Schneidemaschine war alt. Wie wäre es mit neuen Geräten? Schuld an den Regelverstößen ist also die Schlitzmaschine? Die Anhörung gab einen Blick in die Tiefen der österreichischen Bürokratie frei.

Den Höchstrichtern sei für diese öffentliche Anhörung Dank. Greller kann das Bild, das man sich so landläufig in Österreich von einem korrekten Umgang mit demokratischen Spielregeln macht, nicht gezeichnet werden

Demnach gelten der Prinzipien:

1. Des hamma immer schon so g’macht – ob nach dem Buchstaben des Gesetzes oder eben auch nicht.

2. Wir ham kan Richter braucht – bis jetzt jedenfalls.

3. Man soll das alles nicht so eng sehen.

Man könnte noch ein viertes Prinzip hinzufügen, aber das ist eher ein allgemein gesellschaftliches: Schuld ist immer wer anderer. Im Fall des Auszählungschaos bei der Stichwahl sind das nach Aussagen der Wahlleiter etc. vor dem Höchstgericht das Innenministerium und die Medien. Diese hätten am Montag nach der Stichwahl unheimlich Druck gemacht, dass die Auszählung um 16 Uhr fertig sein soll: Das Innenministerium weil Minister Wolfgang Sobotka endlich ein Ergebnis verkünden wollte; die Medien, weil sie säumige Sprengel „durch den Kakao gezogen haben“ wie etwa in Tirol und der Wahlleiter von Graz-Umgebung zum Beispiel keinesfalls „den schwarzen Peter“ zugeschoben haben wollte.

Allerdings gäbe es für die nunmehr rechtlich bedrängten Wahlleiter oder Wahlbeisitzer (Unterschriften unter nicht gelesene oder falsche Protokolle) einen Ausweg, sollte ihnen tatsächlich strafrechtliches Ungemach drohen. Sie könnten das sogenannte Dörfler-Prinzip geltend machen, denn eigentlich müsste für sie der gleiche Maßstab gelten wie für den ehemaligen Kärntner Landeshauptmann Gerhard Dörfler.

Dieser hatte 2006 unter Missachtung eines Urteils des Verfassungsgerichtshofs verfassungswidrige Weisungen erlassen, somit Amtsmissbrauch begangen. Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt hat dennoch 2009 das Verfahren mit der Begründung eingestellt, aus Unkenntnis der Rechtsvorschriften habe Dörfler subjektiv keinen Amtsmissbrauch begangen, weil er die „strafrechtliche Tragweite seiner Handlungen nicht einzuschätzen vermochte.“

Also, alle von einer Klage wegen Urkundenfälschung und Amtsmissbrauch bei der Stichwahl am 22. Mai bedrohte Beamte und Wahlhelfer mit Ausnahme der Wahlleiters von Graz-Umgebung, der „wusste“ was er tat, beruft Euch darauf, dass Ihr subjektiv keinen Amtsmissbrauch begangen habt. Juristische Ausbildung? Wer keine hat, muss wie Dörfler aus dem Schneider sein.

Alle, die den zeitlichen Druck des Innenministeriums nachgegeben haben bei der Auszählung, holt die Begründung aus Klagenfurt hervor. Auch Dörfler habe die Meinung Jörg Haiders unreflektiert zur Kenntnis genommen heißt es dort. Große Unaufmerksamkeit beim Auszählen und mangelndes Verständnis der Regeln? Kein Problem. Hat auch bei Dörfler nicht für eine Klage ausgereicht, denn er habe ja nicht gewusst, was er tat.

Bringt alle vor, dass ihr die strafrechtliche Tragweite Eures regelwidrigen Handelns am 22. April und 23. April nicht einzuschätzen vermochtet und es kann Euch nichts passieren.

Im Gegenteil, vielleicht ist eine Karriere drin. Immerhin sitzt Gerhard Dörfler heute im Bundesrat.

Aber im Ernst: Hält sich der Verfassungsgerichtshof an seine eigene Rechtssprechung bei Wahlanfechtungen, dann muss er die Stichwahl ob der haarsträubenden Pfuschaktionen, die bei den Anhörungen zugegeben wurden, aufheben. Wendet er das Dörfler-Prinzip an (Unwissenheit schützt doch vor Strafe), dann kann Alexander Van der Bellen am 8. Juli angelobt werden. Denn Wahlmanipulation wurde von allen bestritten.

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