Sind wir verrückt? Ist die Digitalisierung und das Internet an allem schuld? Oder wollen wir einfach nicht mehr wissen, was richtig ist?
Die Medienwelt, jene Deutschlands zumal, ist erschüttert, heißt es. Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ an seinem Tiefpunkt in seiner 70jährigen Geschichte angelangt – just zu einem Zeitpunkt, in dem die klassischen Medien weltweit zwar kein neues, in seiner Dimension aber noch nie dagewesenes Glaubwürdigkeitsproblem haben.
Die erfundenen Reportagen des „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius und die Fassungslosigkeit der Redaktion in Hamburg, erinnern stark an die erfundenen Reportagen des Journalisten Jason Blair bei der „New York Times“ – und das Entsetzen der Redaktion auch. Da wird nun genauso hektisch nach einer Antwort auf die Frage „Wie konnte das passieren?“ und Lücken im Kontrollsystem gesucht wie 2003 in New York – Selbstbezichtigungen inklusive. Dabei, so kann man vermuten, schauen die Verantwortlichen auf die falschen Stellen. Denn eines haben die beiden Fälle gemeinsam. Wenn man sich dessen bewusst wird, ließen sich künftige vielleicht eher vermeiden.
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Die Gemeinsamkeit liegt in der Reaktion derjenigen, die ihre Mitarbeiter gefördert haben: Sie sahen in ihnen nur was sie sehen wollten. Relotius, 31, ist jung, talentiert, außergewöhnlich – in einer Branche, die sich für das Außergewöhnliche immer weniger Zeit und immer weniger Geld in die Hand nimmt. Blair, damals 27, war jung, talentiert und ist Afroamerikaner. Er bewies, dass die NYT die Vielfalt ihrer Redaktion förderte und schätzte. Stolz waren die Verantwortlichen auf beide. Hätten sie genauer hingesehen, hätten sie sich die Frage, wie die Täuschung denn passieren konnte, nicht stellen müssen.
Das Verrückte daran: Die ganze Branche hätte aus der Blair-Blamage der NYT vor 15 Jahren die richtigen Schlüsse ziehen können, zumal die Zeitung selbst tage-, wochen- und seitenlang ihre Ursachen und Wirkungen öffentlich nachzuvollziehen suchte. So wie die „Spiegel“-Redaktion jetzt offenbar will. Man hätte sich schon vor 15 Jahren damit auseinandersetzen müssen, wo der Segen der Digitalisierung in den Medien in Fluch umschlagen kann. Blair konnte seine erfundenen Reportagen von seiner Wohnung in New Jersey aus nur an die Redaktion schicken, weil er im Zeitalter des Internets alle Informationen zusammentragen konnte, ohne diese je verlassen zu müssen; weil er vorgeben konnte, wo zu sein wo er nicht wahr, weil niemand kontrollieren konnte, woher genau seine Berichte abgeschickt wurden.
Relotius war wohl vor Ort. Details zu Geschichten zwischen Dichtung und Wahrheit sind allemal auch aus dem Internet zu beziehen. Doch wenn die Umgebung nur sieht was sie sehen will, muss jede Kontrolle versagen. Dass dies im Fall des „Spiegels“ so war bestätigte ja auch jener Mitarbeiter, der Verdacht geschöpft hatte und die Redaktion darauf aufmerksam machen wollte. Es wurde ihm einfach nicht geglaubt. Der Tunnelblick der Begeisterung kann eben „das was ist“ ausblenden. Das hat dann mit der Digitalisierung nichts mehr zu tun.
Verrücktes konnte man allerdings auch in Österreich in den letzten Tagen beobachten. Zum Beispiel das Schweigen der Medien zur fortgesetzten Umdeutung von Begriffen à la George Orwell durch Vertreter der Regierung: Die ist zwar nicht neu, hat aber jetzt eine neue Qualität erreicht. Vizekanzler Heinz Christian Strache stellte ein Video auf seine Facebook-Seite, an deren Text den Autor von „1984“ wie einen Dilettanten aussehen lässt: Strache besucht „Die Hubers“ und bring ihnen „Geschenke“: Mehr Polizisten auf den Strassen, eine Verschärfung des Fremdenrechts, den Stopp der illegalen Migration, konsequente Abschiebung von straffälligen Asylwerbern, die Verhinderung des „verhängnisvollen“ Migrationspaktes der UNO. Geschenke? Auf Kosten der Steuerzahler, die ja für mehr Polizisten aufkommen müssen. Geschenke? Auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit? Geschenke? Auf Kosten der internationalen Reputation, wenn Österreich zuerst selbst an der Erstellung des Migrationspakts beteiligt ist und ihn „richtig“ ausverhandeln hätte können, sich schließlich aber vom eigenen Verhandlungsergebnis distanzierte. Die mediale Reaktion auf diese Verdrehung der Tatsache durch einen Politiker, der gekommen ist, um „Stille“ zu schenken, war gleich Null.
Wissen wir nicht mehr was richtig ist? Richtig ist zum Beispiel, dass ein Politiker den Bürgern nie ein „Geschenk“ machen kann – denn für jede politischen Entscheidung muss er eine Gegenleistung liefern: Entweder finanziell in Form seiner Steuern oder auf andere Art. Sehen wir auch nur, was wir sehen wollen?
Was ist nicht richtig? Die Umdeutung von Begriffen einfach so hinzunehmen. Aus einer „Ausgangssperre“ für Asylwerber wird zuerst flugs eine Hausordnung und danach eine „Anwesenheitspflicht“. Der Begriff Ausgangssperre ist mindestens so belastet wie die ebenfalls vorgeschlagene „Sonderbehandlung“ von Asylwerbern oder die „konzentrierten Asylquartiere“. Doch all das scheint niemanden mehr aufzuregen.
Wir gewöhnen uns daran bis uns nicht mehr auffällt, dass hier etwas ins Rutschen gerät. Den Kollegen der Herren Relotius und Blair ist auch nichts aufgefallen.
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