Kennen Sie das Wort: Selbstvergewisserung? Nein? Nun, der Duden erklärt es als „Bestätigung des eigenen Selbstbildes“, aber was hat es ganz offiziell in einer politischen Debatte verloren?
Die Antwort darauf gab Angela Merkel vor der Endrunde der sogenannten Sondierungsgespräche zur Bildung einer Bundesregierung in Deutschland von CDU/CSU, FDP und Grüne in der Nacht von Donnerstag auf Freitag. Entgegen ihrer bisherigen Schweige-Gewohnheit vor derartigen Gesprächsrunden trat sie dieses Mal vor die Kameras. Die Verhandler von ÖVP und FPÖ täten gut daran, sich ihr Statement anzuhören. Da könnten sie einiges lernen bevor sie vor lauter Cluster, Forderungen, Aufpasser und Personalwünsche der FPÖ am Ende nicht mehr wissen, was eigentlich wichtig ist.
Genau dies hat nämlich Merkel in – auch für die verbohrtesten Parteipolitiker leicht verständlichen Form – erklärt. Sie sprach einen Satz aus, den man in Österreich weder vor noch während noch nach Verhandlungen zur Bildung einer Regierung je gehört hat: Es ginge jetzt darum, „sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen“ – eben mit dem eigenen „Selbstbild“ vor Augen. Ob das in Österreich je ein Koalitionsverhandler probiert hat? Wie dieses, sich in den anderen Hineinversetzen mit der Selbstvergewisserung zusammen geht? Eben, um zu klären, was für den anderen, was für einen selbst wichtig ist. Wo kann man den anderen „leben“ lassen, was ist für einen selbst unverzichtbar?
In Merkels Worte klang das am Donnerstag am Weg in die letzten Sondierungsgespräche so: Es ginge jetzt um die „Identität“ der verschiedenen Parteien. Jede Partei kämpfe darum, möglichst viel davon in einem Regierungsprogramm sichtbar zu machen. „Und das ist gut so“, sagte Merkel. Denn es zwinge die Verhandler eben, sich mit dem eigenen Selbstbild auseinanderzusetzen; also dazu, für sich zu klären, „was wichtig ist und was nicht“. Das sei ein schwieriger Prozess. Es müsse sich aber jeder in der Regierung „wieder finden“. Es gebe ganz unterschiedliche Positionen, aber sie hoffe, dass man trotzdem in der Lage sein werde, positiv für die Menschen zu arbeiten.
Den anderen „leben“ lassen, das war – so weit erinnerlich – noch nie bei Regierungsverhandlungen in Österreich ein Credo. Nimmt man ernst, was bis jetzt aus den laufenden Gesprächen verbreitet wir, so geht es auch dieses Mal wieder nicht darum. Da scheinen wieder, ganz andere Dinge wichtig zu sein – trotz der anfangs zur Schau gestellten Harmonie zwischen Sebastian Kurz und Heinz Christian Strache. Wäre es anders, würden nicht seit Tagen diverse Personalwünsche der FPÖ immer und immer wieder in die Öffentlichkeit getragen werden; dann hätte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen auch das völlig überflüssige name droping im Kreis der EU-Botschafter erspart. Mit dem Bann für zwei Vertreter der FPÖ, Harald Vilimsky (Generalsekretär und EU-Abgeordneter) und Johann Gudenus (Wiens Vizebürgermeister) hat Van der Bellen den Gesprächen einen völlig überflüssigen Dreh gegeben. Eigentlich hätte man annehmen können, dass er mit Sebastian Kurz und Heinz Christian Strache im Vorfeld ohne viel Aufsehens geklärt hätte, ihn ja nicht in eine Situation zu bringen, in der er Minister ablehnen müsse. Würde die FPÖ nämlich auf einen der beiden als Mitglied einer schwarz-blauen Regierung beharren, verliert entweder der Bundespräsident Gesicht und Reputation oder es kommt zu einer veritablen Verfassungskrise. Diese war 2000 nur deshalb abgewendet worden, weil Jörg Haider die betreffenden Personen fallen gelassen hat. Der Bundespräsident kann nicht gezwungen werden, bestimmte Minister anzugeloben; die nominierende Partei nicht, einen Vorschlag zurück zu ziehen.
Würde in ÖVP und FPÖ nur irgendjemand so ähnlich denken wie Merkel, wären Personalia in diesem Stadium ihrer Gespräche nicht einmal ein Thema. Dass sie es dennoch sind, erinnert ebenfalls sehr an Erzählungen von den schwarz-blauen Regierungsverhandlungen 1999/2000. Dort sei es, so wurde damals erzählt, intern auch hauptsächlich um Posten und Positionen gegangen, nicht um politischen Inhalt. Der sei dann irgendwie zustande gekommen.
Noch ist es nicht zu spät. Noch können alle 140 „Verhandler“ von Merkel lernen und sich nicht nur vergewissern, wie der „andere“ am besten im künftigen Regierungsprogramm zu „schwächen“ wäre. Das hatten wir alles schon xmal.
In Deutschland sind die Identitätsunterschiede der einzelnen Parteien ungleich stärker als jene von ÖVP und FPÖ. Da muss es doch viel leichter sein, den anderen seine Identität zu lassen – bei so viel Übereinstimmung.